GA-Interview Angelika Maria Wahrheit: "Viel mehr Kinder an Regelschulen"

Bonn · Die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben soll schon im frühesten Kindesalter möglich sein. Das besagt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Das bedeutet auch, dass diesen Mädchen und Jungen der Besuch einer Regelschule - Stichwort "Gemeinsamer Unterricht" (GU) - ermöglicht werden soll.

 Inklusion: Das heißt auch, dass Kinder mit Behinderungen, wie diese Schülerin, gemeinsam mit nicht behinderten Kindern lernen sollen.

Inklusion: Das heißt auch, dass Kinder mit Behinderungen, wie diese Schülerin, gemeinsam mit nicht behinderten Kindern lernen sollen.

Foto: GA

Die Fragen an Schuldezernentin Angelika Maria Wahrheit stellten Ebba Hagenberg-Miliu und Lisa Inhoffen schriftlich. Einen vereinbarten Interviewtermin sagte Wahrheit aus Zeitgründen ab.

Wie wappnet sich die Stadt gegen Klagen, weil möglicherweise nicht alle Eltern, die wollen, einen GU-Platz für ihr Kind erhalten können?

Angelika Maria Wahrheit: Bei den Verteilerkonferenzen Ende Mai stellte sich heraus, dass alle Kinder, deren Eltern das wollen, in der Primarstufe einen Platz an einer Regelschule erhalten können. Mit Klagen rechnen wir also nicht.

Bei welcher Klassengröße ist mit wie vielen Förderkindern noch guter GU zu leisten?

Wahrheit: Klassengrößen festzulegen, ist Aufgabe des Landes. Wir wissen, dass 25 Kinder, von denen vier bis fünf einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, als oberste Grenze dessen angesehen werden, was pädagogisch interessengerecht ist. Gewünscht wird von vielen ein Verhältnis von 16 plus vier. Als Stadt mit an einzelnen Standorten noch wachsenden Schülerzahlen steht dem allerdings gegenüber, dass unsere Schulen voll belegt und die Klassen zum Teil sehr groß sind. Eine Garantie für eine bestimmte Zahlenrelation kann derzeit nicht übernommen werden.

Sind die bisherigen elf Bonner GU-Grundschulen mit ausreichend Personal versorgt?

Wahrheit: Die Stellenbesetzung mit Lehrern erfolgt über die Schulaufsicht und die Bezirksregierung. Bisher ist alles getan worden, um eine ausreichende Versorgung mit Sonderpädagogen zu gewährleisten. Allerdings droht mehr und mehr ein Fachkräftemangel.

Werden die Konditionen an den sechs neuen GU-Schulen anders sein als die an den bisherigen?

Wahrheit: Die personelle Ausstattung der neuen GU-Schulen ist allein Angelegenheit des Landes Nordrhein-Westfalen. Hier hat die Schulaufsicht für das Schuljahr 2012/2013 je eine halbe Stelle mit einem erfahrenen Sonderpädagogen zugesagt. Das entspricht den Vorgaben aus dem Schulgesetz und der Versorgung der anderen GU-Schulen.

Wird die sachliche Ausstattung der GU-Schulen durch die Stadt ausreichend sein, um gute Unterrichtsqualität zu bieten?

Wahrheit: Es gibt keine rechtlichen Vorgaben hinsichtlich dessen, was die Stadt für GU-Schulen bereitstellen muss. Die Ausstattung ist abhängig vom Einzelfall und dem konkreten Bedarf für die Förderung der Kinder. Hier versucht die Stadt, mit den Schulen interessengerechte Lösungen zu entwickeln.

Wie wird es mit den räumlichen Ressourcen in den Bonner Grundschulen bestellt sein?

Wahrheit: Die Stadt wird sich mit der Frage des pädagogisch wünschenswerten Raumprogramms vor dem Hintergrund von Inklusion und Ganztag neu auseinandersetzen müssen. Drei der sechs neuen GU-Schulen haben schon jetzt eine erkennbar schwierige Raumsituation. Zumindest an der Jahnschule sind Mittel für eine Aufstockung vorgesehen. Mit den beiden anderen Schulen sind die notwendigen Gespräche noch zu führen. Aber sowohl die zum Teil bis an die Oberkante ausgereizte Raumsituation an Schulen als auch die äußerst angespannt finanzielle Lage der Stadt schränken unsere Möglichkeiten erheblich ein.

Ist überall Barrierefreiheit garantiert? Zum Beispiel die Finkenhofschule mit den Klassen in der ersten Etage hat keinen Lift.

Wahrheit: Bei der Verteilung der Kinder wurde darauf geachtet, dass das Gebäude für ein Kind mit einer körperlichen Einschränkung geeignet ist. An der Finkenhofschule wird also kein Kind mit dem Förderschwerpunkt "Körperliche Beeinträchtigung" beschult werden. In Einzelfällen haben wir Schulen bereits mit einem Treppenlift oder Aufzug ausgestattet.

Was tun Sie für die Zusatzausbildung der bisherigen Lehrer in dieser kurzen Zeit?

Wahrheit: Fortbildungen für Lehrer werden über das Land organisiert. Wir arbeiten auf örtlicher Ebene eng mit der Schulaufsicht zusammen und unterstützen die GU-Schulen.

Planen Sie wie die Stadt Köln, Ressourcen aus den Förderschulen in die neuen GU-Schulen umzuschichten, um die Erweiterung zu finanzieren?

Wahrheit: Hier bleibt abzuwarten, wie das Land sich verhält. Wir gehen davon aus, dass zunehmend Ressourcen von Förderschulen auf Regelschulen verlagert werden, weil Eltern künftig in deutlich erhöhtem Maß die Regelschule wählen werden - eine Entwicklung, die wir mit aller Kraft unterstützen. Im Augenblick sieht es so aus, dass die Pestalozzischule ab dem Schuljahr 2013/ 2014 geschlossen wird, weil seit Jahren keine Eingangsklasse mehr zustande kommt. Die frei werdenden sonderpädagogischen Ressourcen kommen hoffentlich dem Inklusionsprozess in Bonn zugute.

Und was wird aus den anderen Bonner Förderschulen?

Wahrheit: In welchem Umfang und in welcher zeitlichen Abfolge Förderschulen entbehrlich werden können, hängt in hohem Maß davon ab, wie das Land die Rahmenbedingungen für den Inklusionsprozess formuliert. "Bonn inklusiv" heißt für mich nicht, möglichst schnell alle Förderschulen abzuschaffen, sondern dass wir uns auf den Weg machen, dass künftig viel mehr Kinder Regelschulen besuchen. Es heißt, dass sich das System Schule Zug um Zug Kindern und ihren Bedürfnissen anpasst, und dass sich nicht die Kinder dem System anpassen müssen.

Gemeinsamer Unterricht in Bonn

Derzeit wird an elf Bonner Grundschulen insgesamt 258 Förderschülern die Möglichkeit der Teilnahme am gemeinsamen Unterricht (GU) gegeben. Zum Schuljahr 2012/13 kommen 74 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinzu, von denen 32 an sechs neuen GU-Grundschulen lernen werden: an der Jahn-, Bernhard- und der Grundschule Medinghoven, in Godesberg an der Beethoven- und Andreasschule sowie an der Hardtberger Finkenhofschule. Wie berichtet, kam es an diesen Schulen zu Kritik, weil sie sich von der Planung überrollt sahen.

Die Stadt steckt hier derzeit viel Energie in Fortbildung und die zusätzliche personelle und Sachausrüstung. Im Schuljahr 2013/2014 sollen weitere neue GU-Grundschulen an den Start gehen. Der weitere GU-Ausbau soll im Rahmen des noch 2012 zu erwartenden Inklusionsplans konkretisiert werden. Als besonderes Vorbild für integratives Arbeiten gilt die Evangelische Bodelschwinghschule, die mit der NRW-Bildungsministerin heute 30 Jahre GU feiert. 1982 hatte diese Godesberger Schule als bundesweit erste Grundschule das GU-Experiment gewagt. Von der 30-jährigen Erfahrung profitieren hier heute neben den Regelschulkindern auch 37 Förderschüler.

Zur Person

Angelika Maria Wahrheit (54) leitet seit 2008 als Beigeordnete der Stadt Bonn das Familiendezernat. Die gelernte Journalistin und Politikwissenschaftlerin arbeitete ab 1991 in der NRW-Staatskanzlei. Sie war anschließend Pressesprecherin in Ministerien, bevor sie 2005 als Leiterin der Stabsstelle ins Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst nach Dresden wechselte.

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