Anklage gegen NS-Verbrecher in Bonn

Samuel Kunz ist ein alter Mann, nächste Woche feiert er Geburtstag, dann wird er 89 Jahre alt. Der Familienvater, der bis 1970 als Haushandwerker im Bonner Bundesbauministerium arbeitete, lebt als Rentner in einem schmucken Haus, idyllisch gelegen in Wachtberg.

Anklage gegen NS-Verbrecher in Bonn
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Bonn. Samuel Kunz ist ein alter Mann, nächste Woche feiert er Geburtstag, dann wird er 89 Jahre alt. Der Familienvater, der bis 1970 als Haushandwerker im Bonner Bundesbauministerium arbeitete, lebt als Rentner in einem schmucken Haus, idyllisch gelegen in Wachtberg.

Doch bevor sich der gebürtige Wolgadeutsche hier ein Leben als unbescholtener Bürger aufbaute, soll er ein Massenmörder gewesen sein: Der Mann, der an dritter Stelle auf der Liste der zehn meistgesuchten NS-Verbrecher des Simon-Wiesenthal-Zentrums steht, muss sich demnächst vor dem Bonner Landgericht für den Massenmord an Juden im Vernichtungslager Belzec in Polen verantworten.

Weil Kunz zu Beginn der ihm vorgeworfenen Taten gerade noch 20 war, wird er im Alter von fast 90 Jahren vor dem Jugendschwurgericht stehen. Beihilfe zum Mord in mindestens 430 000 Fällen und eigenhändigen Mord in zehn Fällen wirft ihm die Anklage vor, die von der NRW-Zentralstelle in Dortmund für die Aufarbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen gegen ihn erhoben und dem 88-Jährigen gerade zugestellt wurde.

Verbrechern auf der SpurDie systematische Verfolgung von NS-Verbrechen kam erst rund 15 Jahre nach Kriegsende in Gang. Den Anfang bildete dabei die Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg Ende 1958, nachdem eine Bundeszuständigkeit abgelehnt worden war. 1961 wurden auch bei den Staatsanwaltschaften Köln und Dortmund entsprechende Zentralstellen eingerichtet, wobei Köln für Verbrechen innerhalb der in Konzentrationslagern begangenen Taten, Dortmund für alle übrigen NS-Verbrechen zuständig war. Anfang der 1990er Jahre wurde Köln aufgelöst, seitdem kümmern sich allein Dortmunder Ermittler um die Verfolgung mutmaßlicher NS-Verbrecher aus NRW. Mehr als 1 400 Verfahren hat die Dortmunder Zentralstelle seit ihrem Bestehen eingeleitet, wie ihr langjähriger Leiter, Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß, feststellte. Stets ging es um Mord, denn der verjährt nach deutschem Recht nicht und kann als einziges Verbrechen noch nach Jahrzehnten verfolgt werden. Zuletzt vertrat Maaß die Anklage gegen den ehemaligen SS-Hauptscharführer Heinrich Boere vor dem Landgericht Aachen, das Maaß' Antrag entsprach und eine lebenslange Haft aussprach. Zurzeit sind nach Auskunft von Maaß' Kollegen Göke noch 16 NS-Verfahren anhängig, wobei das gegen Samuel Kunz die größte Dimension habe. Und laut Göke kommen immer wieder neue Verfahren nach. Heute wird Ulrich Maaß, der Mann, der jahrelang NS-Verbrecher jagte und zuletzt mit nur noch einem Kollegen die Fälle bearbeitete, in den Ruhestand verabschiedet.

Das teilte die Pressestelle des Landgerichts am Donnerstag mit. Damit kommt auf das Gericht nach 25 Jahren noch einmal ein Verfahren zu, das mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu tun hat. Zuletzt war in Bonn in diesem Zusammenhang 1985 ein hoher Bundesbeamter angeklagt, dem Beihilfe zum Holocaust vorgeworfen wurde, weil er als SS-Kommandant in Frankreich Deportationszüge mit hunderten Juden nach Auschwitz befohlen haben soll.Nach aufwendigem Prozess mit vielen Zeitzeugen und Gutachtern wurde er freigesprochen: Ihm sei, urteilten die Richter, nicht nachzuweisen, dass er zu dem Zeitpunkt im fernen Frankreich gewusst habe, dass er die Menschen nicht in Arbeitslager, sondern in Gaskammern schickte. Der Fall Samuel Kunz liegt anders. Kunz war der Anklage zufolge wie John Demjanjuk, gegen den zurzeit in München verhandelt wird, als Wachmann Teil der Mordmaschinerie im KZ Belzec in Polen, einem reinen Vernichtungslager der Deutschen.

Er soll dort von Januar 1942 bis Juli 1943 eingesetzt gewesen sein, als Wachmann. Wie Demjanjuk soll er über das Ausbildungslager Trawniki nach Belzec gekommen sein, wo SS-Offiziere Volksdeutsche und Antibolschewisten zu Handlangern für die Vernichtungslager ausbildeten. In Belzec wurden 1942 nach eigenen Angaben der SS 434 508 Juden ermordet, zum größten Teil in den Gaskammern.

Wie die Pressestelle des Bonner Landgerichts mitteilt, wurden die Opfer mit Zügen in Viehwaggons zum Vernichtungslager gebracht, dann wurden die Züge umstellt, die Menschen mussten aussteigen, und ihnen wurde erklärt, sie kämen zum Arbeitseinsatz, müssten jedoch vorher entlaust, gebadet und untersucht werden. Mit Peitschen, Holzstöcken und Pistolen wurden sie zur Eile angetrieben, mussten sich in Auskleidungsbaracken ausziehen, ihre Kleider abgeben und wurden nackt in das Lager transportiert.

Den Frauen wurden in einer Baracke die Haare abgeschnitten. Zuerst wurden die Männer, anschließend die Frauen und Kinder zum Vergasungsgebäude getrieben und in den Kammern eingeschlossen. Ein Verbrennungsmotor wurde in Gang gesetzt, dessen Abgase die Menschen nach 15 bis 20 Minuten tötete. Dann wurden die Leichen nach Wertsachen durchsucht und in vorbereitete Gruben geworfen.

Dass Kunz als Wachmann diese Maschinerie des Todes mit in Gang hielt, wertet die Staatsanwaltschaft als Beihilfe zum Massenmord. Aber der heute 88-Jährige soll auch Menschen eigenhändig getötet haben. Im Mai/Juni 1943 soll Kunz acht Häftlinge erschossen haben: Als ein anderer Wachmann die Menschen, die sich mit dem Gesicht nach unten in einen zuvor ausgehobenen Graben legen mussten, mit seinem Gewehr nicht tödlich getroffen hatte, soll er dessen Waffe genommen und die Verwundeten getötet haben.

Außerdem wirft ihm die Anklage vor, im Juli 1943 zwei weitere Menschen erschossen zu haben, die aus einem für das Vernichtungslager bestimmten Zug geflüchtet waren. Samuel Kunz war erst im Rahmen des Demjanjuk-Verfahrens von der Liste der Zeugen auf die Liste möglicher Beschuldigter geraten. GA-Informationen zufolge war er bereits 1961 in einem NS-Verfahren in Hamburg als Zeuge gegen einen Lagerausbilder gehört, aber nie selbst als möglicher Täter verfolgt worden.

Für den Dortmunder Oberstaatsanwalt Christoph Göke hat das Verfahren gegen den Mann aus Wachtberg eine noch größere Dimension als das gegen John Demjanjuk. Im Gegensatz zu dem Ukrainer, dessen angebliche Verhandlungsunfähigkeit in München immer wieder zu Prozessverzögerungen führt, soll sich Kunz trotz seines Alters guter Gesundheit erfreuen. Außer Problemen mit dem Gehör soll er keine ernsthaften Erkrankungen haben.

Das zumindest erklärte am Donnerstag sein Verteidiger Uwe Krechel. Dem Anwalt zufolge hatte sein Mandant mit den Tötungen nichts zu tun. Kunz habe nur seinen Dienst als Wachmann versehen und ab und zu im Lager als Übersetzer fungiert. Samuel Kunz sei sicher, dass es sich um eine Verwechslung handele: In einem Nachbardorf habe es auch einen Kunz gegeben, allerdings mit einem anderen Vornamen.

Wann der Prozess gegen den 88-Jährigen beginnt, steht noch nicht fest. Zunächst muss die Kammer prüfen, ob sie das Verfahren, für das die Anklage 39 Zeugen benannt hat, eröffnet. Nur eines gilt als sicher: Sollte es zum Prozess kommen, wird er international auf großes Interesse stoßen. Wie Oberstaatsanwalt Göke erklärte, hätten sich zahlreiche Medienvertreter aus dem Ausland nach dem Verfahren erkundigt. Auch beim GA gingen Anrufe ein, unter anderem von einem Journalisten aus Israel.

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