Chortreffen der Auslands-Esten: "Wir sind ein Volk der Sänger"

BAD GODESBERG · Man sagt, Esten seien zurückhaltend, sachlich, ja eigenbrötlerisch. Die Kaffeerunde, die sich an diesem Wochenende im Haus Annaberg in einer Pause von den Konzertproben erholt, mutet ziemlich munter an. Temperamentvoll tauschen die Mitglieder des Europäischen Chors der Esten ihre Meinungen zu aktuellen politischen Ereignissen aus - in dieser dem Finnischen ähnlichen Sprache, die im Baltikum nur noch gut eine Million Menschen sprechen.

 Singen als Ausdruck kultureller Identität: Auslands-Esten beim Chortreffen.

Singen als Ausdruck kultureller Identität: Auslands-Esten beim Chortreffen.

Foto: Volker Lannert

Die meisten sind Esten, die nach der Öffnung der Grenzen nach 1990 in den Westen zogen, wie Katri Hackländer. "Ich war 1991 das erste Mal als Au-pair-Mädchen hier", erzählt die Frau aus Tallin. Und irgendwann blieb sie in Deutschland. "Der Liebe wegen." Ja, sie habe sich mit Hilfe ihres Mannes bald in der neuen Heimat zurechtgefunden, aber kenne durchaus andere Esten, denen es hier nicht leicht gemacht wurde, bis sie sich akklimatisierten. "Das steht und fällt natürlich mit der Sprache", erntet Hackländer Kopfnicken am Kaffeetisch.

Drüben die Frauen kommen jetzt aus Großbritannien, andere reisen aus Luxemburg, der Schweiz und Belgien zu den regelmäßigen Chortreffen an. "Wir sind dieses Mal wieder 62 Sänger", sagt die Organisatorin Mare Rahkema. Haus Annaberg, das großzügige Schlösschen oberhalb von Friesdorf, sei ein idealer Treffpunkt: nicht zu weit vom Flughafen Köln-Bonn entfernt, mit herrlichen Räumlichkeiten auch zum Aufführen und mit Möglichkeiten zum Auslauf in der Natur gesegnet. Hausherr Andrejs Urdze vom Baltischen Christlichen Bund e.V. hat übers Jahr in seinem Tagungshaus immer wieder baltische Gruppen zu Gast.

"Für uns Esten ist es wichtig, dass wir unsere Kultur auch an unseren neuen Wohnorten wertschätzen", sagt Lea Küngas-Leitary. Die Tochter estnischer Eltern ist in Köln geboren und doch mit Leidenschaft seit der Gründung 2003 im Chor dabei.

"Wir suchen natürlich Gleichgesinnte, sonst geht unsere Kultur den Bach runter." Zu Hause redet sie mit ihren Töchtern selbstverständlich Estnisch. Aber die Kontakte in der sich immer wieder wandelnden Chorgruppe frischen die Sprachkenntnisse auch wieder auf. "Wenn man bedenkt, dass die meisten hier extra in den Flieger steigen, um sich für zwei Tage zu treffen, beeindruckt das auch mich", meint Küngas-Leitary.

Herzlich begrüßt sie Reet Jarvik, ebenfalls eine Frau, die nicht in Estland geboren ist: Die Eltern gingen nach dem Zweiten Weltkrieg nach Großbritannien. Reet Jarvik aus Nottingham kommt also zweimal im Jahr nach Friesdorf, um endlich wieder auf Estnisch singen zu können. "Denn wir sind wirklich ein Volk der Sänger." Gleich werden die Dirigenten Kalev Lindal und Saidi Tammeorg noch einmal separat mit den Männer- und Frauenstimmen üben. Ja, was ist typisch estnisch?, fragen die Frauen Ansgar Albrecht, der mit seiner estnischen Frau und den Kindern beim Chorwochenende dabei ist.

Im Hause Albrecht wird Deutsch und Estnisch gesprochen. Esten seien erst einmal scheu, was gerade seiner Frau den Start in Deutschland schwer gemacht habe, erzählt Albrecht. Aber sie hätten im Gegensatz zu den Deutschen ein überhaupt nicht verkrampftes Verhältnis zu ihrer Nation. Die Damen um ihn herum nicken. "Wir sind lauter Esten im Herzen."

Traditionen würden auch in der neuen Heimat selbstverständlich weitergelebt. Zum Beispiel zu Weihnachten, erzählt selbst die Kölnerin Lea Küngas-Leitary. "Es vergeht kein Fest, für das ich nicht selbst die estnische Blutwurst koche."

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