Wer war die SPD-Legende Herbert Wehner? Der wortgewaltige „Onkel Herbert“

Serie | Bad Godesberg · Der General-Anzeiger lädt ein zum Spaziergang auf lokalen Friedhöfen. Und zu Gräbern einer Reihe von Godesberger Promis. Zuerst besuchen wir das der SPD-Legende Herbert Wehner. Was machte den Politiker zum Unikum?

 Der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehner, hält beim Bundesparteitag der SPD im November 1975 in Mannheim eine gestenreiche Rede.

Der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehner, hält beim Bundesparteitag der SPD im November 1975 in Mannheim eine gestenreiche Rede.

Foto: picture-alliance/ dpa/Heinz Wieseler

Irgendwie passt die Grabstätte Herbert Wehners auf dem Godesberger Burgfriedhof zu diesem einst großen alten Mann der bundesdeutschen Sozialdemokratie. Hier, am äußersten Rand des Gottesackers, hat also dieser besonders in den 1970er-Jahren mächtige SPD-Fraktionsvorsitzende und vormalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen seine letzte Ruhe gefunden: fast im Abseits, in das sich der brillante, aber berüchtigt eigenwillige Politiker im Leben selbst gerne manövrierte. Das Grab, in dem auch Wehners zweite Ehefrau Lotte liegt, verschwindet heute fast im Dunkel einer Front von Nadelbäumen.

Bescheiden, ja karg ist es nur mit Bodendeckern und zwei Rhododendren bewachsen. Auch das hätte dem im Hauptstadt-Bonn als Asket verschrienen überzeugten Protestanten gefallen. Pflegte Wehner doch, sein einfaches Mittagsmahl gleich im Büro aus einem von Stieftochter Greta mitgebrachten Thermos-Topf zu verspeisen. Auf dem Grab reckt sich nur der mit Kreuzen verzierte hohe, schmale Stein selbstbewusst empor. „Am 11. Juli 1906 in Dresden geboren. Gestorben in Bad Godesberg am 19. Januar 1990“ ist darauf wie auch die Bundestagsjahre 1949 bis 1983 geschrieben: heute kaum mehr lesbar.

„Ein Ehrengrab der Stadt Bonn? Herbert Wehner? Tja, wo liegt der gleich?“, hatte vorhin der Friedhofsgärtner nachdenklich zurückgefragt. Offensichtlich konnte der junge Mann schon mit dem Politikernamen nichts mehr anfangen. Erst ein Blick ins Smartphone half weiter.

Den prägnanten, stolzen Grabstein erkannte der Gärtner sofort. „Ach ja. Da vorne nicht weit von den jüdischen Gräberreihen“, wies er den Weg zur Friedhofsflanke. Hier hatte zuletzt 2015 die Bonner SPD-Spitze zum 25-jährigen Todestag Wehners einen Kranz niedergelegt. Als „Menschenfreund“ und „Kämpfer für die Sache“ hatte der heutige Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich seinen Vorgänger bezeichnet. „Herbert Wehner hat die SPD regierungsfähig gemacht.“

Weiß das heute noch jemand? „Wehner war einer der interessantesten, leidenschaftlichsten, fleißigsten und umstrittensten deutschen Nachkriegspolitiker“, blickte das ZDF im Juni online auf diese „schillernde Persönlichkeit“ zurück. Und erinnerte an Wehners Anfänge ab 1927 als sächsischer Abgeordneter der Kommunistischen Partei, als vor den Nazis Geflüchteter und schließlich als einer, der nach harten Exiljahren mit dem Kommunismus brach.

Am Rande des Burgfriedhofs: Grab Herbert Wehners und seiner Frau Lotte.

Am Rande des Burgfriedhofs: Grab Herbert Wehners und seiner Frau Lotte.

Foto: Ebba Hagenberg-Miliu

Ab 1949 habe Wehner 34 Bundestagsjahre lang SPD-Karriere gemacht, 1959 großen Anteil an deren Godesberger Programm gehabt und als „Zuchtmeister“ und „Schrecken vieler Präsidenten“ von seinem Stammplatz vorne rechts aus jedem Respekt eingeflößt.

„Strolch“, „Schleimer“, „Lümmel“

Nicht weniger als 78 Ordnungsrufe für Zwischenrufe wie „Strolch“, „Schleimer“, „Lümmel“ oder „Dreckschleuder“ habe sich der ehemalige Sängerknabe der Dresdner Erlöserkirche eingehandelt, so das ZDF. Gleichzeitig sei seine parlamentarische Disziplin legendär gewesen. Morgens sei Wehner als Erster im Sitzungssaal erschienen und habe spätabends als einer der Letzten seine schwarze, abgewetzte Mappe gepackt. Aus der pflegte „Onkel Herbert“ nur zu gerne seine akribisch aufbereiteten und allseits gefürchteten Dokumente zu ziehen.

Die Wochenzeitung Zeit mokierte sich kürzlich über die heute unselige Verkümmerung politischer Rhetorik à la „Doppelwumms“ und lobte Wehner sowie seinen damaligen Kontrahenten Franz-Josef Strauß als noch „brillante Vermittler ihrer politischen Agenda“. Diese beiden hätte ihre Wähler nicht „wie angeschickerte Touristen im Ferienflieger“ behandelt.

Die SPD habe es zwei Politikern zu verdanken, überhaupt in der Mittelschicht Wähler gebunden zu haben, blickte 2019 die Süddeutsche Zeitung zurück. „Herbert Wehner war der parteiinterne Motor der Verwandlung, Willy Brandt ihr charismatischer Exponent.“ Mit Helmut Schmidt bildeten sie die damals legendäre SPD-Troika.

Umstritten war und ist jedoch Wehners Rolle beim Kanzlerwechsel von Brandt zu Schmidt vor dem Hintergrund der Guillaume-Spionageaffäre 1974 sowie die Intensität seiner Kontakte zu DDR-Vertretern. Die Dresdener Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung schreibt bis heute gegen die selbst von Genossen verbreiteten Vorwürfe an, Wehner, der zuletzt in einem Heiderhofer Bungalow lebte, habe Verrat verübt.

Der Nachbar sei immer sehr freundlich und bodenständig gewesen, erinnern sich dagegen heutige Heiderhofer. „Er ging täglich im Weißdornweg mit Pfeife spazieren. Er durfte wohl nicht drinnen rauchen“, erzählt Alexandra Mielke. Neugierig sei sie als Kind um das kleine polizeiliche Wachhaus am Wendehammer gestreift, berichtet sie. Besonders dann, wenn die Polizei den Heiderhof wieder einmal abgeriegelt hatte. Dann habe Wehner mit Bruderkuss den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker oder Sowjetführer Leonid Breschnew begrüßt.

Nicht weit entfernt habe ja auch Bonns damaliger Außenminister Hans-Dietrich Genscher gewohnt. „Wir hatten die Welt zu Gast bei uns im Weißdornweg“, sagt Mielke. Und doch wollten die Wehners 1990, dass der junge Ortspfarrer den bekannten Politiker beerdigte, erinnert sich Pfarrer Christian Werner heute. Mit einem „Puh“ habe er damals vor der Aufgabe gestanden.

Im Haus direkt an der Gemeinschaftsgrundschule muss Wehner auch vielfach DDR-Chefunterhändler Wolfgang Vogel empfangen haben, wie es der Spiegel 1977 berichtete. Anlass sei „jenes von beiden Seiten im Halbdunkel betriebene zwischendeutsche Geschäft“, gewesen, „bei dem die Bundesrepublik mit harter West-Mark Ost-Berlin Ausreise-Genehmigungen für DDR-Bürger abkaufte“.

Auch das erste Treffen zwischen einem westdeutschen Regierungschef und „dem obersten Einheitssozialisten“ habe Wehner hier vorbereitet. „Über seine Ost-Drähte nahmen Schmidt und Honecker Fühlung auf, ehe sie, im Sommer 1975 bei der KSZE-Schlussrunde in Helsinki, ihr gesamtdeutsches Gipfelgespräch führten.“

„Ich danke Ihnen für das Interview, Herr Wöhner"

Wehner dürfte seine Rolle hinter den Kulissen der deutsch-deutschen Politik sehr genossen haben. Ganz so angenehm wäre ihm jedoch wohl nicht gewesen, dass mit Ernst-Dieter Lueg einer seiner journalistischen Intimfeinde im Jahr 2000 nicht weit vom Wehner-Grab ebenfalls auf dem Burgfriedhof begraben wurde. Noch heute ist ein unerbittliches Streitgespräch zwischen den beiden im Netz zu bestaunen: In dem tituliert Wehner Lueg laufend bissig mit „Herr Lüg“, woraufhin sich Lueg schließlich mit einem „Ich danke Ihnen für das Interview, Herr Wöhner“ rächte.

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