Bad Godesberger Kammerspiele Geiselnahme für die Bildung: "Verrücktes Blut"

Bad Godesberg · So kann Stadttheater sein, wenn es sich traut, leichtfüßig böse und dramatisch fantastisch gut offene Wunden unterhaltsam zu bearbeiten.

 Lernen, oder ich schieße: Sessede Terziyan brilliert als bewaffnete Lehrerin.

Lernen, oder ich schieße: Sessede Terziyan brilliert als bewaffnete Lehrerin.

Foto: Lutz Knospe

Sie lümmeln auf den Stühlen um die Spielfläche herum, kratzen sich demonstrativ zwischen den Beinen, plappern in ihre Handys. Sieben postpubertäre Jugendliche mit "migrantischem Hintergrund": zwei Mädchen, fünf Jungs. Auf Schule haben sie echt keinen Bock. Die junge Lehrerin kann sich kaum Gehör verschaffen in diesem Rabauken-Chaos. Doch dann fällt ihr eine Pistole aus dem Rucksack des Anführers vor die Füße.

Zitternd nimmt sie das Ding und ihre Schüler als Geiseln für den Unterricht. Schillers "Ästhetische Erziehung" mit Reclamheften und Knarre - ohne Gewalt wird man das schöne deutsche Wort "Vernunft", das diese "Kanaken" nicht mal anständig aussprechen können, kaum in ihre Köpfe kriegen.

Das im Auftrag der Ruhrtriennale entstandene Stück "Verrücktes Blut", 2010 am Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße auf der Grundlage des französischen Films "La journée de la jupe" entwickelt von dem Regisseur Nurkan Erpulat und dem Dramaturgen Jens Hillje, spielt unverschämt witzig mit den Klischees der Multikulti-Gesellschaft.

Vor allem ist es eine spannende Krimi-Komödie mit überraschenden Wendungen, die den Mut zu echten Gefühlen nicht unterdrückt. Der große Wurf des kleinen freien "postmigrantischen" Theaters in Berlin-Kreuzberg - geleitet von Shermin Langhoff, der Frau von Lukas Langhoff, der dem Theater Bonn mit Ibsens "Volksfeind" eine Einladung zum Berliner Theatertreffen 2012 bescherte - gehört zu den aufregendsten aktuellen Bühnenereignissen.

Deshalb tourt es nun mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes durch die Republik und wurde an den zwei ausverkauften Gastspielabenden in den Bonner Kammerspielen begeistert gefeiert.

Schillers Sturm-und-Drang-Dramen sind Thema des Projekttages der Klasse, der die Lehrerin knallhart eintrichtert, dass der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt. Die zierliche Sessede Terziyan macht das großartig. "Hosen runter!", bellt sie den kleinen muslimischen Machos ins Gesicht, reduziert die vermeintlichen Herren der Schöpfung auf die unsaubere Unterwäsche und fordert vom kurzberockten Kopftuchmädchen die Befreiung vom unterdrückenden Schleier.

Der Aufklärungsidealismus bringt die superdeutsche Frau, die ihren Schützlingen die Revolte predigt, wirklich ins Schwitzen. Der Ton ist rau, aber herzlich in der Gruppe. Blutige Nasen holen sich mehrere in diesem gemeinen Spiel, das raffiniert und erfreulich unverbissen einen Gesellschaftszustand spiegelt. Ab und zu steigen alle aus ihren Rollen und zelebrieren schön sentimental urdeutsches Liedgut.

So kann Stadttheater sein, wenn es sich traut, leichtfüßig böse und dramatisch fantastisch gut offene Wunden unterhaltsam zu bearbeiten. Ein Ereignis mit heiter sinnlichem Mehrwert und Nachfragepotenzial, das Zuschauer aller Generationen in Bonn bei der Diskussion mit den Mitwirkenden intensiv nutzten.

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