Interview mit Bonner Soziologin über Jugendkriminalität „Ich misstraue einfachen Erklärungen“

Bad Godesberg · Der Tod von Niklas P. hat viele Menschen nachdenklich gestimmt. Wie konnte es zu so einem Gewaltausbruch kommen? Im Vorfeld der GA-Dialogveranstaltung „Godesberger Treff“", sprach Silke Elbern mit der Bonner Soziologieprofessorin Doris Mathilde Lucke.

Nach dem Tod von Niklas P. ist schnell die erweiterte Schuldfrage aufgetaucht. Behörden, Medien, vieles rückte in den Fokus. Warum?

Doris Mathilde Lucke: Die Schuldfrage gehört wie Blumen, Kerzen, Beileidsbekundungen und Totenläuten im weitesten Sinne zu einem Ritual. Die Volksseele ist empört und muss beruhigt werden. Das hat der französische Soziologe Émile Durkheim schon Ende des 19. Jahrhunderts gesagt. Schuldige und Ursachen werden öffentlichkeitswirksam benannt. Das eigentliche Problem wird dadurch nicht gelöst.

Die Rolle der Eltern des Hauptverdächtigen ist nicht beleuchtet worden.

Lucke: Was wäre denn gewonnen, wenn man gesagt hätte, die Eltern sind schuld? Das ist nur eine von vielen anderen wohlfeilen Interpretationen. Ich misstraue derart einfachen und scheinbar naheliegenden Erklärungsversuchen. Ich will die Eltern nicht in Schutz nehmen, aber es gibt heutzutage viele Miterziehende, Medien, Internet. Auch die Schulen sind gefragt.

Welches Klima herrscht dort?

Lucke: Gerade an vielen sogenannten Brennpunktschulen unterrichten Lehrer und Lehrerinnen nicht in erster Linie, sondern sind Sozialarbeiter, dafür aber gar nicht ausgebildet.

Der Migrationshintergrund des in U-Haft sitzenden Hauptverdächtigen ist für manche Bürger bei der Bewertung der Tat entscheidend.

Lucke: Man muss vorsichtig sein mit dem Klischee des ausländischen männlichen Kriminellen. Je nach herangezogener Statistik und je nachdem, wie man diese interpretiert, kann sich dieses Klischee auch als Irrtum herausstellen. Aber so funktionieren wir: Wenn in einer Straße ein Kinderrad gestohlen wird, hat man zuerst Ausländer im Verdacht.

Woher kommt das?

Lucke: Um eine eigene Identität zu haben, brauchen wir den Spiegel des Fremden, des Anderen. Und dieser Andere – das ist dann eben keiner von uns. Ich finde, so wie das jetzt diskutiert wird, steckt der Gedanke dahinter „Jemand von uns hätte das nicht gemacht“. Dass diese Mechanismen wirken, sieht man allein schon an den Namen der Beteiligten. Diese fungieren als eine Art Identitätsmarker.

Sie meinen Niklas P. und Walid S.?

Lucke: Ja. Man kennt das auch von Stellenbewerbungen. Wenn Sie Bewerbungen anonymisieren, das Geschlecht austauschen oder andere, irgendwie ausländisch und fremd klingende Namen einsetzen, dann ist das Rekrutierungsverhalten von Betrieben ein ganz anderes. Daran erkennen Sie im Umkehrschluss zugleich die Funktionsweise dieser offensichtlich übertragbaren Diskriminierungs- und Ausschlussmechanismen.

Der „Fremde“ könnte also vorher schlechte Erfahrungen gemacht haben?

Lucke: Ich selbst bin Tochter heimatvertriebener Eltern und kann deshalb nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch aus individual-biographischer Sicht beurteilen, was es heißt, nicht dazuzugehören. Aber ich und einige andere sogenannte Flüchtlingskinder, wir haben uns damals gedacht „Denen zeigen wir's“. Wir waren unglaublich gut in der Schule und gehörten zu den mit Preisen ausgezeichneten Jahrgangsbesten. Im aktuellen Fall ist es anscheinend genau in die umgekehrte Richtung gegangen. Je nach „coping“, also Problembearbeitungsstrategie kann dann – auch teilweise erziehungs- und elternunabhängig – eine gewisse Bereitschaft zu Gewalt entstehen. Begünstigt wird das, wenn zum Beispiel durch Jugendarbeitslosigkeit eine fehlende Struktur im Tagesablauf und allgemeine Orientierungs- und Perspektivlosigkeit hinzukommen. Ein Beispiel hierfür sind die anhaltenden Jugendunruhen in den Pariser Banlieues. Ich betreue dazu gerade eine Doktorarbeit.

Die Polizei sucht noch nach Mittätern. Welche Funktion hat die Clique?

Lucke: Eine ganz entscheidende. Die „Peers“, also die Gruppe der Gleichaltrigen, spielen gerade bei der Selbstsozialisation von Jugendlichen generell eine große Rolle. Jugendkriminalität ist typischerweise Bandenkriminalität und zum Erwachsenwerden gehören gerade bei Jungen oft auch Mutproben vor Zuschauern.

Warum haben seine Freunde den Hauptverdächtigen nicht gestoppt? Zumindest ab einem gewissen Punkt?

Lucke: Sie wollten innerhalb ihrer Eigengruppe wahrscheinlich keine Abweichler sein und standen möglicherweise unter einem Gruppendruck. Das Phänomen nennt man in der Soziologie und der Kriminologie „sekundäre Devianz“.

Woraus resultiert die große Betroffenheit bei Menschen, die das Opfer gar nicht kannten?

Lucke: Jenseits der kollektiven Trauer um Prinzessin Diana oder auch Nelson Mandela gibt es kaum einen stärkeren Solidarisierungs- und Empathiefaktor als aktuelle oder auch potenzielle Selbstbetroffenheit, wenn man sich vorstellt, dass genau das Gleiche dem eigenen Kind, nahen Angehörigen oder auch einem selbst hätte passieren können. Das Opfer hat sich ja nicht bewusst in Gefahr begeben und ist in einem sprichwörtlichen Sinne „darin umgekommen“. Niklas war, wie ich den Pressemeldungen entnehme, offenbar nach dem Auftakt zu „Rhein in Flammen“ nachts auf dem Weg nach Hause. Es war eine ganz normale Situation, deshalb geht uns sein Tod so besonders nahe.

Ist die Jugend von heute gewaltbereiter als die vor 30 Jahren?

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