Missbrauchsfälle im Aloisiuskolleg Konfrontation mit der Wahrheit

BAD GODESBERG · "Wir erfuhren Dinge, die wir nie gedacht hätten". Die einleitenden Worte, die einer der Moderatoren für die Podiumsdiskussion zum Bekanntwerden der Missbrauchsfälle am Aloisiuskolleg fand, schienen die Atmosphäre der gut zweieinhalbstündigen Diskussion ungeahnt vorweg zu nehmen.

Sie wurde zu einem ernsten und zuweilen bewegenden Austausch zwischen heutigen und ehemaligen Schülern. Mit dabei: Jesuitenprovinzial Stephan Kiechle. Organisiert hatte die Veranstaltung die Redaktion der Schülerzeitung "Ako kompakt". Drei Aspekte rückten am Abend in den Mittelpunkt: Wurden die Straftaten am Ako, die sich über Jahrzehnte verteilen, in gebotener Weise aufgeklärt? Wie konsequent sind die Missbrauchsfälle aufgearbeitet worden? Und wie sieht der Beitrag der Schule dazu aus, dass sich derlei nie wiederholt?

l Aufklärung: Rund 200 Betroffene, so berichtete Provinzial Stephan Kiechle als Leiter der Jesuiten in Deutschland, hätten sich in den vergangenen Jahren beim Orden gemeldet. Rund 60 Fälle davon seien am Aloisiuskolleg zu verorten gewesen, ergänzte Journalistin Ebba Hagenberg-Miliu, deren Veröffentlichungen im General-Anzeiger exakt fünf Jahre zuvor die Vorfälle bekannt gemacht hatten.

"Alle Betroffenen sind seinerzeit selbst auf uns zugekommen, nachdem von anderen Schulen Ähnliches publik wurde", berichtete sie. Man habe "versucht, Klarheit zu bekommen und aufzuklären", sagte Stephan Kiechle und ergänzte: "Wir haben noch viel mehr gehört, als die Öffentlichkeit weiß". Der Orden habe "versucht", sich zu stellen und Hilfe zu leisten, sagte Kiechle, ohne dabei ins Detail zu gehen.

Ebenfalls werde "versucht, um Entschuldigung zu bitten, soweit das möglich ist". Offen ließ er die Frage, ob der Orden generell damals Verantwortliche zur Rechenschaft ziehe. Schwere Vorwürfe gegen den Orden erhob Johannes Heibel von der Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern.

Er konfrontierte den Provinzial mit den mutmaßlichen Fällen im Ako-Pro-Seminar. Der Orden habe die Betroffenen und die Initiative alleingelassen, sagte Heibel. Einblicke in das Innenleben eines ehemaligen Internatserziehers gab der heutige Lehrer Johannes Hensle: Auf die Frage, ob sich ihm damals Schüler anvertraut hätten, antwortete er betont vorsichtig: "Ich habe es nicht mitbekommen. Aber Kinder brauchen oftmals eine Reihe von Anläufen, bis sie gehört werden".

l Aufarbeitung: Wie präsent ist das Thema heute in der Schule? Hierüber gehen die Wahrnehmungen auseinander, wie Wortbeiträge aus den Reihen heutiger Schüler und von Rektor Johannes Siebner zeigten. Erst bei der Lektüre von Hagenberg-Milius Buch "Unheiliger Berg" habe man erkannt, wie wenig man über die Vorfälle informiert worden sei, sagte ein Schüler.

"Wir haben immer das Gefühl, über nichts anderes zu reden", entgegnete indes Siebner und setzte hinzu: "Wir haben nicht hinreichend informiert und müssen das in Zukunft ändern." Doch den Moderatoren des Abends reichte das nicht.

"Wir bleiben nicht ein Leben lang hier. Wann soll diese Arbeit beginnen?", hakten sie nach. Siebner versprach, dass Maßnahmen "jetzt greifen" müssten, etwa in Form von Projekttagen oder direkten Gesprächen mit den Klassen. "Ich muss ehrlich zugeben, dass ich Scheu habe, das Thema von selbst anzusprechen", erklärte Siebner, und betonte: "Der Wunsch nach einem Schlussstrich darf nicht übermächtig werden."

Er ging damit auch darauf ein, dass Schüler beobachtet hatten, wie eine Lehrerin die Einladung zur Podiumsdiskussion mit den Worten quittiert habe: "Die kann ja wohl in den Müll". "Das ist sehr ärgerlich, untypisch und sicher auch unreif. Es ist unsere Verantwortung, das Thema zu einem Thema des Kollegs zu machen", so Siebner. Eine Schülerin wollte von Johannes Hensle wissen, wie er sich nach Bekanntwerden der Vorfälle gefühlt habe.

"Man funktionierte. Alles um uns stürzte ein, und jeder agierte, aber man kam nicht dazu, darüber nachzudenken", sagte Hensle. Etwas gewusst haben - einige Schüler reagierten merklich verwundert darauf, als verschiedene Ehemalige sich meldeten, und teilweise sehr emotional berichteten, seinerzeit etwas geahnt zu haben.

"Warum haben Sie dann nichts gesagt?", fragte ein Jugendlicher. "Es war ein Fehler", so der Abiturient der späten 80er Jahre, und verteidigte sich: "Es gab gar keine Möglichkeit zu sprechen." Ihm schloss sich ein ehemaliger Mitschüler an: "Inzwischen ist eine Freiheit in die Schule gekommen, die wir früher so nicht kannten", sagte er.

"Wenn wir damals so sensibel gewesen wären wie die Schüler von heute, wäre es vielleicht anders gekommen." Während auch andere Ehemalige "das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte" bestätigten, konnte sich ein Teil dem wiederum nicht anschließen und ließ erkennen, von den Enthüllungen völlig überrascht worden zu sein.

Prävention

Die Forderung eines Betroffenen nach einer generellen Entkonfessionalisierung von Schulen blieb am Donnerstagabend eine Einzelmeinung. "Es ist nicht fair, solche Vorfälle allein auf die katholische Kirche zu schieben", sagte eine Schülerin.

Im Sinne einer wirksamen Prävention hätten Institutionen "die Pflicht, sich Leute ins Haus zu holen, die genau hinschauen", sagte Wilma Wirtz-Weinrich von der Bonner Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt. Ob das Aloisiuskolleg heutzutage über die Sensibilität verfüge, derer es bedürfe, wurde Johannes Hensle gefragt: "Keine Institution bekommt jemals ausreichend Sensibilität", sagte er und ergänzte: "Dass sich etwas geändert hat, glaube ich schon".

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