Menschen afrikanischer Abstammung Rainer Lotz ist frühen Tondokumenten auf der Spur

BONN · Was für eine Schatzkiste. Die Box mit den 44 CDs und zwei farbenprächtigen Büchern ist wie ein Teleskop, das einen Blick zurück in die Geschichte ermöglicht, in eine Zeit, in der die Bilder gerade lernten zu laufen, noch schattenartig, aber bewegt, eine Zeit, in der sich die technische Welt geradezu in Siebenmeilenstiefeln entwickelte.

Europa ist fasziniert von der geheimnisvollen, rätselhaften Welt der Kolonien. In Varietés werden fremde Völker in menschlichen Zoos ausgestellt und bewundert. Es ist die Zeit um die Jahrhundertwende. Die industrielle Revolution dampft aus allen Schloten, das Mikrofon ist noch nicht entdeckt, und der Jazz hat noch nicht mal das Krabbelalter erreicht. Doch die Kultur Afrikas und etliche afroamerikanische Künstler haben längst ihre Spuren in Europa hinterlassen.

Genau diese faszinierende Zeit hat Rainer Lotz jahrzehntelang fasziniert. Der leidenschaftliche Jazzfan und glühende Plattensammler hat das Ergebnis seiner akribischen Forschung jetzt in einer packenden Box herausgegeben.

Am Samstag, 25. Januar, stellt der Bad Godesberger seine Sammlung ab 19.30 Uhr in der Fabrik 45, Hochstadenring 45 vor. Der Eintritt beträgt zwei Euro. Veranstaltet wird die Lesung von der Bonner Kulturorganisation "Taxi MunDJal MusiX", die seit Jahren das Bewusstsein für globale Musikkulturen fördert.

Natürlich ist der 76-Jährige über den Jazz zu seiner Musik- und Sammelleidenschaft gekommen. Der gebürtige Hamburger kann sich noch genau an seine erste Langspielplatte erinnern. "Ich war Schüler auf einem Internat auf Spiekeroog und ein Freund von mir erzählte von einer Platte. Da wir nicht genug Taschengeld hatten, legten wir zusammen", erzählt Lotz. Es war ein Duke Ellington-Album mit Bubber Miley, der wegen seines sogenannten Jungle Styles auf der Trompete bekannt war. "Als ich 'The Mooche' hörte, dachte ich nur: Das ist ja Irrsinn! Von diesem Moment an wollte ich mehr wissen über den Jazz", so Lotz weiter. Der Jazzbazillus sollte ihn nicht mehr loslassen.

Und Lotz beließ es nicht nur beim hobbymäßigen Hören. Im Laufe der Jahre brachte er mehrere Bücher und LP-Veröffentlichungen heraus. Sein Beruf kam seinem Forschungsdrang entgegen. Denn der Maschinenbauingenieur und Volkswirt war jahrzehntelang in der Entwicklungspolitik tätig, beriet zunächst Entwicklungsbanken auf dem gesamten Erdball, dann reiste er für das Entwicklungshilfeministerium rund um die Welt und inspizierte Projekte. "Das hat mir ermöglicht, ein dichtes Netzwerk zu knüpfen", erklärt er. Zunächst tauschte man einfach nur Platten, später öffneten ihm die Kontakte Türen zu den ungewöhnlichsten Archiven.

Beim jüngsten Projekt hat sich der Jazzhistoriker auf die Zeit von 1880 bis 1927 konzentriert, auf die Zeit der Wachsrollen und Schellackplatten, als der Ton noch mittels Trichter auf eine Membran geleitet und als abwechselnd flachere und tiefere Rille auf die rotierende Walze graviert wurde. "Um 1927 hatten dann fast alle Plattenfirmen auf Mikro umgestellt. Das habe ich als Zäsur genommen", erklärt der Musikarchäologe.

Fast 57 Minuten Tondokumente und ein umfangreiches lexigraphisches Werk mit farbenprächtigen Illustrationen sind so zusammengekommen - teils noch nie veröffentlichte und längst verschollen geglaubte Aufnahmen: von seltenen afrikanischen Dialekten bis zu den ersten Aufnahmen des damaligen Superstars Josephine Baker. Das alles sind auch Belege für die Geschichte der Migration, der Rassendiskriminierung und der, besonders aus heutiger Sicht, unfassbaren Auswüchse der Kolonialmentalität.

Lotz hat zum Teil bizarre Geschichten und Biografien ausgegraben, die Stoff für Romane und Filme bieten. Zum Beispiel die des William Hoffman. Der gebürtige Magdeburger wanderte nach London aus, wo er später Diener des englischen Afrikaforschers Henry Stanley wurde.

Obwohl er ihn 1887 bis 1890 bei der Durchquerung des Kontinents begleitete, wird er in Stanleys Büchern nie erwähnt. Hoffman kehrt später mehrmals nach Afrika zurück und bietet seine Dienste verschiedenen Herrschern an. 1905 bringt er eine Gruppe von Okapi, einen Pygmäen-Stamm, aus dem heutigen Uganda nach London, wo sie bestaunt werden. Es gibt sogar Tonaufnahmen aus dieser Zeit. Auf den Rollen ist der Dialekt der Okapi zu hören, den Hoffman offenbar auch beherrschte. "Hoffman war ein Bösewicht, ein Widerling, der die Okapi anschnauzt, und diese einen Strom an Obszönitäten über ihn schütten", erzählt Lotz.

Oder Arnold Holtz, der Kaiser Menelik von Äthiopien dadurch beeindruckte, indem er 1908 ein Automobil über die weiten Steppen und die schwierigen Tal- und Bergstrecken bis zum Herrscherpalast brachte. Einige Untergebene, darunter die Sänger Tesemma Eshete und Azmari, brachte er mit nach Berlin, um sie in der Kunst der Automechanik zu unterrichten. Auch von ihnen gibt es Tondokumente. Oder vom "Village Nègre" bei der Pariser Weltausstellung 1900, Aufnahmen von afrikanischen Kriegsgefangenen, die Max Freiherr von Oppenheim um 1914/15 tätigte und dadurch längst ausgestorbene Sprachen festgehalten hat, polyphone Gesänge der zentralafrikanischen Baule, aber auch frühe Aufnahmen des Duos Pete Hampton und Laura Bowman, das um die Jahrhundertwende fast zehn Jahre lang durch Europa tingelte, und des Savoy Quartets, einer der beliebtesten Ragtime-Bands ihrer Zeit.

Keine Frage, diese Sammlung ist ein fast unerschöpflicher Quell wunderbarer und wunderlicher Kostbarkeiten.

Die Lesung mit Rainer Lotz ist am Samstag, 25. Januar, ab 19.30 Uhr in der Fabrik 45, Hochstadenring 45.

Die Box

Black Europe - The Sounds and Images of Black People pre-1927, 44-CD Box Set (LP-Größe) mit zwei gebundenen 300-seitigen Büchern, 1244 Einzeltitel. Gesamtspieldauer: 56 Stunden 26 Minuten 27 Sekunden, 750 Euro. Mitarbeit: Rainer E. Lotz (Diskograph), Horst J.P. Bergmeier (Biograf) aus den Niederlanden, Jeffrey Green (Historiker) und Howard Rye (Forscher), beide aus Großbritannien. Die weltweit verstreuten und vergessenen Tonaufnahmen wurden von Christian Zwarg restauriert. Die Aufnahmequalität ist erstaunlich. Der Schatz reicht von den 1880ern- bis in die späten 1920er-Jahre.

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