Mit sieben kam Ursula Nagel nach Godesberg Seit 90 Jahren im selben Haus
Villenviertel · Seit 90 Jahren wohnt Ursula Nagel im selben Haus in der Gneisenaustraße. Die promovierte Medizinerin zog es einfach nie weg. Mit nunmehr 97 blickt sie zurück auf das, was sie in der Bad Godesberger Villa erlebt hat.
Als Ursula Nagel kürzlich hörte, dass eine 100-jährige Godesbergerin „schon“ seit 65 Jahren im Stadtbezirk wohnt, musste sie schmunzeln. Denn Nagel kann überbieten, mit 97 Lenzen zwar nicht in Sachen Alter, wohl aber mit 90 Jahren in Bad Godesberg. Und die in ein und demselben Haus an der Gneisenaustraße. „1931 hat mein Vater das Haus gekauft, 1932 sind wir eingezogen“, erzählt Nagel, die promovierte Medizinerin ist. Denn die zweigeschossige Villa musste samt Dachgeschoss erst fit für die sechsköpfige Familie gemacht werden, die aus Wuppertal ins Villenviertel kam. „Es gab beispielsweise nur ein Klo und die Diele war zu eng“, erinnert sich Nagel, während sie in ihrem großzügigen Wohnzimmer sitzt.
Eigentlich hatte ihr Vater, der als Versicherungsdirektor erst auf der Plittersdorfer, dann auf der Kronprinzenstraße arbeitete, einen Bauplatz in der Denglerstraße erworben. „Doch die Vorbesitzerin hier ist nur ein Jahr nach der Erbauung 1929 wegen eines Einbruchs in ihre Waschküche ausgezogen und da hat mein Vater zugegriffen“, erzählt die Medizinerin, die mehr als 30 Jahre eine internistische Praxis geführt hat, erst auf der Rheinallee, bis 1993 auf der Beethovenallee.
Anfangs gab es wenig Kinder im Viertel
Die erste Zeit im Viertel hat sie als wenig schön im Kopf. Kinder in der Nachbarschaft waren nämlich Mangelware. „Wenn mich einer gefragt hat, wie ich‘s in Godesberg finde, habe ich immer gesagt: ‚Es gefällt mir überhaupt nicht, nur alte Leute‘“, sagt Nagel. In den Ferien allerdings hätten stets die Massenkeil-Enkel die Oma gegenüber besucht; mit den drei Jungs ging es hoch her. Einer davon war der Vater von Julia Massenkeil-Kühn, die das Haus vor vielen Jahren übernommen hat. „Ursel kennt jetzt mittlerweile die sechste Generation unserer Familie“, sagt Massenkeil-Kühn, die mit der betagten Dame eine enge Freundschaft verbindet.
Nach dem Besuch der Volksschule an der Bachstraße lernte Nagel kurz auf dem Lyzeum an der Lessingstraße, wechselte aber aufs Clara-Fey-Gymnasium. Dem Abi 1943 folgte ein Semester Medizin in Bonn, danach sei die Uni geschlossen worden. „Stattdessen musste ich wie viele andere Kriegsdienst leisten, im Arbeitsdienst in Rheinbach und als Schaffnerin in Bonn“, erzählt die geistig topfitte Frau.
Hörgerät und Rollator als Begleiter im Alter
„Ohne mein Hörgerät und meinen Rollator geht aber nix“, unterbricht sie sich kurz und greift zur Zigarette. Seit 80 Jahren ihr einziges Laster, neben dem ein oder anderen Schnäpschen. „Mein Bruder hat mich damals dazu gebracht, die Zigarette war später oft mein Trostpflaster für viel Arbeit.“ Nagel lässt offen, ob die Selbstständigkeit auch der Grund war, dass sie nie selbst eine Familie gegründet hat. Platz genug wäre ja im Haus gewesen. „Wenn einer zu Besuch kam, sagte mein Vater stets schelmisch: ‚Die heiratet Dich sowieso nicht‘.“ So sei es ja auch gekommen, obwohl sie viele Freunde gehabt habe.
Als die Mutter schwer erkrankte, verließ die Medizinerin die Diakonie in Bad Kreuznach und kehrte zur Pflege zurück in die Gneisenaustraße. Die Mutter starb 1951, den Vater verlor sie 1965. Von da an lebte sie mit ihrer 14 Jahre älteren Schwester in einer Art WG. „Ich unten, sie oben.“ Sie gingen gerne shoppen, kleideten sich beim lange geschlossenen „Zeiss und Hünnes“ am Michaelshof ein, gönnten sich beim Fischladen im Burgviertel Heringsstipp, genossen den „Platz am Rhein“ im Dreesen oder wanderten im Kottenforst.
Das Haus erben die Neffen
Seit dem Tod ihrer Schwester, die 1990 starb, ist sie allein, aber nicht einsam. „Ich habe mich immer wohlgefühlt und wollte nie wegziehen.“ Wobei sie schon ein wenig traurig anmerkt, dass um sie herum viel Wandel sei; man kenne sich nicht mehr. Das Haus mit den hohen Decken werden ihre Neffen erben, der jüngste selbst 71. „Sie wollen es nicht verkaufen“, sagt sie freudig. Bis es soweit ist, wird sie dem ein oder anderen Taxifahrer noch erklären, wo sie wohnt. „Die Gneisenaustraße ist nämlich vielen unbekannt.“