Stadtschreiber Albrecht Selge über Bonn „Das hier ist mein ganz persönliches Haus der Geschichte“

Bad Godesberg · Die Vergangenheit zieht Stadtschreiber Albrecht Selge immer wieder zum Bad Godesberger Rheinufer. Im GA spricht er über seine Lieblingsorte in der Stadt.

Stadtschreiber Albrecht Selge am Rheinpavillon des ehemaligen evangelischen Internats Am Büchel – dort, wo seine Mutter 1957 saß.

Stadtschreiber Albrecht Selge am Rheinpavillon des ehemaligen evangelischen Internats Am Büchel – dort, wo seine Mutter 1957 saß.

Foto: Ebba Hagenberg-Miliu

„Das ist ein ganz besonders schöner Moment“, sagt Bonns derzeitiger Stadtschreiber Albrecht Selge und blickt zum Rhein hinunter. Der Berliner Romanschriftsteller („Beethovn“, 2020) ist zum ersten Mal zu einem der Pavillons über den Kolonnaden nahe der Godesbach-Mündung hochgestiegen. Die heutigen Eigentümer haben ihm und dem GA den Zutritt erlaubt.

„Das hier ist mein ganz persönliches Haus der Geschichte. Da werde ich ganz wehmütig“, erklärt der Mann aus Moabit und zeigt auf seinem Smartphone das Schwarzweiß-Foto einer jungen Frau, die 1957 exakt an diesem Türmchen posierte. „Dieses entwurzelte Mädchen wurde später meine Mutter“, sagt Selge, Jahrgang 1975, und erzählt von dem Internatsgebäude der Evangelischen Kirche im Rheinland, das dort einst stand. Darin habe seine Mutter nach zwei Fluchten, erst im Zweiten Weltkrieg aus Schlesien und dann aus der DDR, gewohnt, bevor sie im nahen Nicolaus-Cusanus-Gymnasium ihr Abitur ablegte.

„Von der weitläufigen Anlage sind nur noch die Türmchen übriggeblieben“, erläutert Selge mit Blick auf die heute kompakte Wohnanlage Am Büchel. Das Internatshaus selbst sei 1993 abgerissen worden. Selge hat sich inzwischen beim Heimat- und Geschichtsvereins über die Historie des Orts informiert. „Das Evangelische Lyzeum war eine 1893 gegründete, sehr traditionsreiche Einrichtung, die allerdings über die Jahre an verschiedenen Standorten angesiedelt war“, antworten für den Verein Iris Henseler-Unger und Bernd Birkholz dem GA.

Das Gebäude, das Selge meine, sei die in den 1980er Jahren als Residenz der finnischen Botschaft genutzte Villa Baudissin gewesen. Und Birkholz präsentiert auf alten Postkarten einen stattlichen Bau mit tiefgezogenem Dach unter mächtigen Bäumen. „Den Spaziergängern am Rheinufer fiel die Villa kaum ins Auge, weil sie durch den Laubengang verdeckt wurde“, erläutert er. Markant seien nur die Pavillons an den Grundstücksecken gewesen.

 Selges Mutter 1957 am Rheinpavillon.

Selges Mutter 1957 am Rheinpavillon.

Foto: privat

Von diesem für ihn persönlich berührenden Ort aus hat Albrecht Selge, übrigens ein Cousin zweiten Grades des Schauspielers Edgar Selge, seit September Bonn und Bad Godesberg erkundet. Er ist, gut gegen den Novemberwind verpackt, mit dem Fahrrad ans Rheinufer gekommen. Selge berichtet von seinen Erkundungen des alten Regierungsviertels, bei denen er als Berliner staunte, „wie absurd dörflich einst in der Bonner Republik alles beieinander lag“.

Im wirklichen Bonner Haus der Geschichte habe ihn Freude, ja Respekt, wenn nicht sogar „eine Art Liebe für unser Staatswesen“ gepackt. Das diesjährige Beethovenfest hat er in vollen Zügen genossen. Obwohl ihm die allgegenwärtigen knallgrün oder golden angepinselten, hüfthohen Beethoven-Kobolde in vielen Schaufenstern als „peinliche Mutterstadt-Allüre“ belustigt hätten.

Das Beethovenfest selbst habe es aber unter junger Neuintendanz geschafft, mit wechselnden Spielstätten konventionelle Konzertformate aufzubrechen, lobt Selge, der auch als Musikkritiker tätig ist. Er habe Atemberaubendes erlebt, was er so noch nie in Berlin gehört habe. Das werfe doch die Frage auf, „wer hier eigentlich die Provinz ist.“

 Zieht erste Bilanz seiner Arbeit: Albrecht Selge

Zieht erste Bilanz seiner Arbeit: Albrecht Selge

Foto: Gene Clover

Selge weiß, dass solches Lob den Bonnern heruntergehen dürfte wie Öl: Er hat Eindrücke wie diese kürzlich auch im Berliner Tagesspiegel veröffentlicht. Und das mit dem Zusatz, dass er als Neu-Hauptstädter sein Stadtschreiberamt in der vormaligen Hauptstadt ja fast mit schlechtem Gewissen angetreten habe.

Der Parkbuchhandlung und dem Verein LeseKultur Godesberg sei er sehr dankbar, dass sie ihm die Chance geben, hier drei Monate lang nur schreiben zu dürfen. „Das Stipendium ist wirklich außergewöhnlich hoch und nicht an Verpflichtungen geknüpft.“

Gerne diskutiere er dieser Tage mit Schülern des Amos-Comenius-Gymnasiums und werde im Januar noch einmal im Beethovenhaus auftreten (siehe Veranstaltungstipp). Mit dem seit 2018 vergebenen Ferdinande-Boxberger-Literaturstipendium erhalten die Stadtschreiber drei Monate lang jeweils 2500 Euro pro Monat und freie Unterkunft. So sei er mit seinem neuen Roman gut weitergekommen, freut sich Selge.

Das kommende Buch handele vom Schweigen, von der Suche nach Ruhe, die aber auch die Gefahr in sich berge, darin zu versinken, verrät Selge. Einerseits fasziniere ihn, dass etwa der taube Beethoven aus der Stille Kunst hervorbringen konnte. Anderseits habe er selbst mit seinem in diesem Jahr verstorbenen Vater „das langsame Verschwinden ins Schweigen“ erlebt.

Selge blickt zum Rhein hinüber. „Es gibt halt das schöne und das schreckliche Schweigen.“ Ein anderes Projekt, ein illustriertes Kinderbuch mit dem Titel „Die Weltreise“, habe er gerade beendet, berichtet der Autor weiter. Darin beziehe er sich auf eine Reise seines jüngsten Sohnes. Der sei ihm doch beim Abholen vom Kindergarten auf dem Laufrad plötzlich „weggezischt“ und wirklich allein zu Hause gelandet. Selge schmunzelt. „Da habe ich aber Blut und Wasser geschwitzt.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort