"100 Köpfe: Wir sind Bonn" Berthold Wicke: Die Orgel darf auch jazzig klingen

BONN · Am Ende eines langen Nachtspaziergangs durch Heidelberg entschloss sich Berthold Wicke, damals 22, dem Rat eines Professors zu folgen und von Theologie auf Kirchenmusik umzusatteln. Beiden Fächern, im Studium zum Teil miteinander verwoben, hatte sich der Student damals verschrieben.

 Berthold Wicke an seinem Arbeitsplatz in der Bonner Lutherkirche: Der Kantor begleitet dort die Gottesdienste und startet interessante Musikprojekte.

Berthold Wicke an seinem Arbeitsplatz in der Bonner Lutherkirche: Der Kantor begleitet dort die Gottesdienste und startet interessante Musikprojekte.

Foto: Barbara Frommann

Seine Entscheidung hat der heutige Kantor der Lutherkirche nie bereut. Die theologische Grundbildung empfindet er als Plus: "Weil ich als Musiker genau weiß, was und wofür ich da spiele." Diese Kenntnis des Was und Wofür ist dem Mann mit dem verschmitzten Gesichtsausdruck bei jedem Einsatz anzumerken.

Mit seinem ebenso konzentrierten wie leidenschaftlichen Klavier- und Orgelspiel verleiht er Gottesdiensten und Gemeindedarbietungen zusätzliche Würde, ohne auf Experimentelles und jazzig-verspielte Schlusspassagen zu verzichten. Letzte Töne dürfen in Ruhe auf ihrem Weg unter die hohe Kirchendecke verhallen. "Ich bin schon jemand, der immer wieder grübelt und zweifelt", sagt Wicke über sich selbst. "Im Gegensatz dazu hat die Musik für mich etwas völlig Fragloses." Als Kleinkind im heimatlichen Frankfurt am Main hat Berthold so manches Bilderbuch unter dem Flügel seiner Eltern sitzend betrachtet. An die Tasten zog es ihn aber erst mit zwölf Jahren. Weil seine Klavierlehrerin Kantorin war, lernte er auch die Orgel kennen - und war fasziniert. "Selber mal Organist zu werden, habe ich mir damals allerdings nicht zugetraut."

1976 trat Wicke seine erste Stelle in der Beueler Nachfolge-Christi-Kirche an. Dass er als Inhaber einer sogenannten B-Stelle schon arbeiten und parallel dazu an der Kölner Musikhochschule weiter studieren durfte, dass später in derselben Gemeinde eigens eine A-Stelle für ihn geschaffen wurde, rechnet er den Verantwortlichen noch immer hoch an. Überhaupt spielt freundschaftlich-kreatives Miteinander eine prägende Rolle im Leben des 64-Jährigen. Seien es Kontakte aus der Studienzeit, aus den Jahren als Korrepetitor des Philharmonischen Chors oder solche, die er als Leiter des Bonner Jugendsinfonieorchesters knüpfte.

Immer wieder führt sein Spaß am Blick über den künstlerischen Tellerrand zu ungewöhnlichen Kooperationen - die hochkarätige Lutherkirchen-Veranstaltungsreihe "Oper in der Kirche" ist ein vielbesuchtes Beispiel dafür. "Wie war das noch genau?", fragt Wicke sich, wenn er sich zu erinnern versucht, welche Umstände ihm die Gastorganisten-Auftritte in der Pariser Kirche Saint-Germain-des-Prés und im australischen Armidale oder sein vierwöchiges Volontariat an der Erlöserkirche in Jerusalem eingebracht haben.

Aber wichtiger sind natürlich die Erfahrungen, die er dort machen konnte. In Jerusalem vor allem das Erleben großer kultureller Unterschiede auf kürzester Strecke: "Man trat heraus aus diesem wilhelminischen Bau, aus den Klängen des christlichen Gottesdienstes und war auf einmal mitten im arabischen Markt mit all seinen Gerüchen."

Die Denkweisen anderer Menschen kennenzulernen und zu verstehen und zu überprüfen, ob die eigenen Überzeugungen gegenteiligen Ansichten standhalten können: Dem Musiker und Komponisten ist diese Art von Regsamkeit wichtig. Ganze Nächte lang, erinnert sich der Vater zweier Söhne und einer Tochter, habe er mit seinen stärker mathematisch-naturwissenschaftlich orientierten Jungs über Gott und die Welt diskutiert, als sich nach der ehelichen Trennung eine generationenübergreifende "Männer-WG" in der Argelanderstraße formiert hatte. In der gerade neu bezogenen, nun wieder Ein-Mann-Wohnung in der Schumannstraße schmücken vier Kissen mit der Aufschrift "Phi-lo-so-fa" das Sitzmöbel. Der Philosophie, mit dem vertrauten Grübeln und Zweifeln eng verbunden, will Wicke sich nach seiner Pensionierung im kommenden Frühjahr als Gasthörer der Bonner Universität widmen. Doch auch der Musik wird er weiterhin treu bleiben. Zum Beispiel als Orgel-Ergänzung im ungewöhnlichen Projekt seiner Lebensgefährtin Susanne Schietzel, die mit Hilfe rekonstruierter Knochenflöten urgeschichtliche Klänge aus der Zeit vor 40 000 Jahren zum Leben erweckt. Und bei vertieften Recherchen zu den verbliebenen Fragen seiner ganz persönlichen Musik-Geschichte: "Arabische Musik, Chinesische Musik, Musik des 14. Jahrhunderts - mit so Vielem kenne ich mich noch gar nicht aus und möchte es erforschen. Ich hoffe sehr, dass mir das Leben diese Möglichkeiten noch schenkt."

Typisch bönnsch

Das sagt Berthold Wicke über Bonn:

An Bonn gefällt mir die lebendige und spannungsvolle Verbindung von alter Residenz- und moderner Universitätsstadt.

Ich vermisse eine architektonisch überzeugende Stadtplanung. Die Neubebauung des Konrad-Adenauer-Platzes beispielsweise ist an Hässlichkeit nicht zu überbieten.

Mein Lieblingsplatz ist an Deck der Beueler Fähre: jede Fahrt ein Kurzurlaub - auch dank der unermüdlich freundlichen Besatzung.

Typisch bönnsch ist das Plusquamperfekt-Futur der Bonner Handwerker: Ich hätte gestern gekommen sein gewollt.

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