Bilanz eines Arztes Die rätselhafte Welt der Scheine

BEUEL · Wie gut geht es den Ärzten wirklich? Der Bonner Allgemeinmediziner Holger Liebermann hat seine Bilanz offengelegt.

Obere Wilhelmstraße. Das Erdgeschoss des 80er-Jahre-Baus mitten in Beuel teilen sich eine Eisdiele und eine Apotheke, im ersten Stock haben ein Facharzt für Hals, Nasen, Ohren sowie ein Hautarzt ihre Praxis, im zweiten Stock ein Zahnarzt.

Der winzige Aufzug rumpelt und ächzt hinauf in den dritten Stock. Dort hat sich Holger Liebermann vor sechs Jahren als Hausarzt selbstständig gemacht. Mittwoch, später Nachmittag. Die Praxis ist geschlossen, aber nicht verwaist. Der 42-Jährige öffnet die Tür. Jeans, weißes Hemd. "Kommen Sie rein. Der Aufzug ist der Hauptgrund, warum wir demnächst umziehen, wenn das neue Ärztehaus neben dem Beueler Rathaus fertig ist. Dann zahlen wir zwar doppelt so viel Miete wie jetzt. Aber wir haben unter unseren Patienten viele Rollstuhlfahrer. Und wenn ein 120-Kilo-Mann mit Sodbrennen kommt und wir hier einen Infarkt diagnostizieren, dann haben die Rettungssanitäter ein echtes Problem."

Der Facharzt für Allgemeinmedizin und Familienmedizin sagt stets "wir", wenn er von der Praxis spricht. Denn das Kleinunternehmen im dritten Stock verschafft sechs weiteren Menschen Lohn und Brot, von der Reinigungskraft bis zur als Assistentin beschäftigten jungen Medizinerin. Auf Liebermanns Schreibtisch liegt die aktuelle Steuererklärung fürs Finanzamt. Alle Zahlen des ersten Halbjahres 2012.

"Hier. Bitte schön. Sie können gern alle Zahlen veröffentlichen. Ich habe nichts zu verbergen." Im Behandlungszimmer nebenan prüft Liebermanns Ehefrau den Materialbestand, während die achtjährige Tochter Schulaufgaben macht. "Papa, was ist ein Pronomen?" Holger Liebermann sieht seine Tochter seltener, als ihm lieb ist. "Als sie noch klein war, da hat sie mal ihre Mutter gefragt: Mama, wo wohnt eigentlich der Papa? Das hat mir schon einen Stich versetzt."

Liebermanns Arbeitstag beginnt grundsätzlich morgens um sieben und endet selten vor acht, neun Uhr abends. Hausbesuche, Notrufe aus dem Altenheim, Bereitschaftsdienst, Büroarbeit. 60 Stunden pro Woche sind die Regel. Auf der Website des Hausarztes im Internet finden Patienten auch seine Handynummer. "Das hat noch nie jemand missbraucht. Und wenn ein Markomar-Patient sonntags aus dem Urlaub anruft, weil er gerade in einen Seeigel getreten ist, dann gehört das für einen Hausarzt dazu."

Terminvereinbarungen

Auf Liebermanns Website sind auch die täglichen Sprechzeiten verzeichnet. Etwa die Hälfte der Öffnungszeit wird nach vorheriger Terminvereinbarung vergeben, die andere Hälfte ist offene Sprechstunde ohne Termin. "Dadurch haben wir auch schon Privatpatienten verloren", sagt Liebermann. Denn bei den offenen Sprechzeiten gilt: Wer zuerst im Wartezimmer sitzt, kommt auch zuerst dran. "Wir machen keine Unterschiede, und wir lehnen auch niemanden ab."

Rund 80 Prozent seiner Patienten sind Kassenpatienten. "Mit 20 Prozent Privaten bin ich gut bedient. Das sieht in Mecklenburg-Vorpommern ganz anders aus." Kranke ohne Versicherung, die ihm die gemeinnützige Hilfsorganisation "MediNetzBonn" schickt, behandelt er kostenlos. Rund 4000 dieser unversicherten Menschen leben in Bonn, schätzt man. Manchmal bringen diese Patienten, um sich bei ihm zu bedanken, selbst Gekochtes nach Rezepten aus ihrer Heimat vorbei.

Ausschließlich mit Kassenpatienten, ohne die privat Versicherten, könnte die Praxis des Beueler Arztes nicht überleben; das zeigt die in der Grafik dargestellte Bilanz des ersten Halbjahres deutlich. "Ich will nicht ausschließen, dass deshalb die Privatpatienten von manchen Kollegen regelrecht gemolken werden. Das ist schon mies."

Liebermann arbeitete zuvor als Anästhesist in den Operationssälen diverser Kliniken. "Ich weiß noch, als ich meine erste Gehaltsabrechnung als fertiger Arzt im Krankenhaus bekam: 1346 netto - D-Mark, nicht Euro." Als sich ihm 2006 die Chance bot, die Praxis an der Oberen Wilhelmstraße zu übernehmen, ging er zur Bank und lieh sich 120.000 Euro als Startkapital. "Ich dachte blauäugig, es genügte, etwas von Medizin zu verstehen", erinnert er sich. "Ein Irrtum. Nach nur einem Jahr war ich so gut wie pleite." Nur 350 Scheine bilanzierte sein Vorgänger. Inzwischen macht Liebermann im Schnitt 1300 Scheine.

Kompliziertes Schein-System der Kassen

Ein Schein ist ein Kassenpatient pro Quartal mit so vielen Kontakten wie nötig. Die Bürokratensprache haben sich nicht die Ärzte ausgedacht. Und das Schein-System der Kassen ist so kompliziert, dass es nicht mal alle Ärzte restlos durchschauen. Nur ein Beispiel aus der bizarren Arithmetik des deutschen Gesundheitswesens:

Für einen Schein gibt es 36 Euro Fallpauschale - weitgehend unabhängig davon, wie zeitaufwendig die medizinische Fürsorge im Einzelfall geboten erscheint. Ausgezahlt werden von den Kassen an den Arzt nach Ablauf eines Quartals aber nicht die Pauschalen für die aktuellen Patienten, sondern für jene im entsprechenden Quartal des Vorjahres.

Und wer sich als niedergelassener Arzt im aktuellen Quartal entscheidet, mit der Familie zu verreisen, kriegt die Quittung im entsprechenden Quartal des nächsten Jahres - nämlich eine neue Fallzahl zugeordnet. Vereinfacht heißt das: Wer mehr Kassenpatienten betreut als zuvor, wird finanziell bestraft, wer weniger betreut als zuvor, wird ebenfalls bestraft. Für Holger Liebermann bedeutet das konkret: Mehr als zwei bis drei Wochen Urlaub pro Jahr sind einfach nicht drin, um nicht bei den Fallzahlen rapide abzusinken.

Aber Liebermann beklagt sich selten über seinen Beruf. "Nur wenn eine auf Unkenntnis und Vorurteilen basierende Neid-Debatte geführt wird, dann werde ich wütend." Ja, er fährt einen alten Porsche. Solche Extras finanziert er zum Beispiel über seine freiwillige Tätigkeit als Wochenend-Notarzt beim Rettungsdienst der Stadt Troisdorf. Da kann sich die Schicht schon mal, wie kürzlich bei einem schweren Verkehrsunfall in Lohmar, bis in die frühen Morgenstunden ausdehnen. Nicht selten dient das Extra-Honorar aber auch zur Investition in neue, kostspielige Geräte: "Irgendwas geht in einer Praxis immer kaputt."

Natürlich ist er sich darüber bewusst, dass in anderen Sparten, etwa beim Eigentümer einer radiologischen Praxis, die Betriebsbilanz deutlich prächtiger ausfällt. "Aber der trägt auch ein wesentlich höheres unternehmerisches Risiko, also soll er auch mehr verdienen. Außerdem: Die große Mehrheit der niedergelassenen Mediziner sind nicht Radiologen, sondern Hausärzte. Und ich wage zu behaupten, dass es beispielsweise Kinderärzten, Gynäkologen oder Urologen auch nicht viel besser geht als mir."

Online-Sprechstunden

Liebermann versucht, in seiner Praxis den erheblichen Verwaltungsaufwand auf ein Minimum zu drücken, damit ihm und seinen Mitarbeitern genug Zeit für die medizinische Arbeit bleibt. So können sich Stammpatienten auf seiner Website registrieren lassen, Einblick in den Terminkalender für die Sprechzeiten nehmen, sich selbst ihren Wunschtermin eintragen, Laborbefunde einsehen und Folgerezepte anfordern. Auch Online-Sprechstunden sind möglich. "Wer nur wissen will, welche Impfungen er für eine geplante Reise nach Indien benötigt, muss sich doch für diese Auskunft nicht extra ins Wartezimmer setzen."

Warum ist Liebermann eigentlich Arzt geworden? "Vermutlich, weil ich mit einem behinderten und schwerkranken Bruder aufgewachsen bin. Das hat mich geprägt." Würde er den Beruf des Hausarztes ein zweites Mal ergreifen? Die Antwort kommt zögerlich: "Ich weiß es manchmal nicht. Fast täglich schlagen hier unangefordert Angebote von Headhuntern auf: Praxis in Schweden, Berater-Jobs, Pharma-Industrie. Wissen Sie, man muss schon eine stabile Psyche haben, um nicht zu resignieren. Aber wenn dann wie kürzlich ein Vater mit drei kleinen Kindern vor mir steht, dessen krebskranke Frau im Sterben liegt, und ich kann diesem Mann helfen, dann weiß ich, dass ich doch den richtigen Beruf ergriffen habe."

Unabhängig davon, welche Entscheidung die Ärzteverbände in der Auseinandersetzung mit den Kassen morgen treffen werden: Holger Liebermann wird sich nicht an einem Streik beteiligen. "Davon halte ich gar nichts. Wenn Fabrikarbeiter streiken, treffen sie damit den Unternehmer, also den Kontrahenten der Auseinandersetzung. Aber wenn niedergelassene Ärzte streiken, treffen sie damit nur die Patienten und die überlasteten Kollegen in den Klinik-Ambulanzen. Aber nicht die Krankenkassen. Die können sich doch entspannt zurücklehnen."

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