Timo Graumann Eine E-Mail des 25-Jährigen an seinen ehemaligen Lehrer

BONN · Eine fremde und beängstigende Welt, nur wenige Minuten vom glitzernden Manhattan entfernt, beschreibt Timo Graumann in einer E-Mail an seinen ehemaligen Bonner Lehrer Bernd Martinius.

 Zum Kurzbesuch in seiner alten Schule in Beuel: Timo Graumann.

Zum Kurzbesuch in seiner alten Schule in Beuel: Timo Graumann.

Foto: Privat

Hallo Bernd,

gerne berichte ich dir aus New York. Wo hole ich dich gedanklich am besten ab? Ich versuch es einfach mal: Ich arbeite bei einer Organisation namens Metro World Child. Ich wohne in Bushwick (kein schöner Stadtteil), bin aber in der Bronx im Einsatz. Einsatz bedeutet, dass ich mit meinem Team (fünf Leute) in bestimmten Gebieten in der Bronx arbeite. Wir machen ein buntes Kinderprogramm, das aus Spielen, Liedern, Spaß und einer lebensnahen christlichen Botschaft besteht. Wie erkläre ich "lebensnah" am besten? Also ein großes Problem hier ist die Mentalität. Wir sind hauptsächlich in Sozialbauten aktiv, doch die sind hier größer als in Deutschland. Viele sind so groß, dass sie ihre eigenen Schulen, Läden und Postleitzahlen haben. Und das prägt die Mentalität und das Weltbild der dort wohnenden Leute.

Wir bezeichnen dies als "inner-city- culture". Diese ist stark geprägt von Alkohol, Drogen, Gangs. Da gilt die Polizei oft als böse, und die Gangs gelten als gut. "Nicht mein Problem" oder "Die anderen sind Schuld" oder "Der Staat soll für mich bezahlen" - das sind Sätze, die ich oft von Eltern höre. Hier in der "inner-city" ist es auch normal, dass fünf Kinder einer Mutter fünf verschiedene Väter und Nachnamen haben. Alle von einem Vater ist die Ausnahme.

Wir versuchen, den Kindern eine andere Perspektive zu zeigen. Das machen wir aber nicht nur durch das Programm, sondern auch durch Besuche. Wir besuchen die Kids wöchentlich zu Hause. Wir laden sie zu unserem Programm ein, versuchen ins Gespräch zu kommen, Beziehungen aufzubauen.

Das ist mit der härteste Teil, da man die Kids in ihrem Lebensumfeld erlebt. Am Dienstag hat mir eines meiner Kids ganz stolz seine Spielsachen gezeigt. Sechs Jahre alt und hatte fünf Spielsachen. Davon waren vier kaputt, und sein neustes Spielzeug war ein leeres Stickerblatt. So ein Zettel, wo man verschiedene Aufkleber abziehen kann. Nur waren da keine Aufkleber mehr! Ich weiß nicht, wie man damit spielen kann. Das war neben einer Matratze und einem kleinen Regal auch mit das einzige im Zimmer. Ich habe noch nie so ein trauriges Kinderzimmer gesehen.

Für die Kids ist etwas ganz Besonderes, wenn man sich Zeit nimmt. Die Mütter sitzen den ganzen Tag zu Hause, haben aber keine Zeit für ihre Kinder. Weil sie überfordert sind und keine Lust auf sie haben, aber auch, weil sie unter Drogen stehen. Und das kommunizieren sie auch so an ihre Kinder. Vor zwei Wochen war ein kleiner Junge (fünf Jahre) bei unserem Programm und hat die ganze Zeit gesagt, dass er sich hasst und er sich umbringen möchte. Dann hat er angefangen, seinen Kopf gegen die Mauer zu schlagen und gesagt: "I hate me, I want to kill me." Was muss dieser Junge zu Hause erdulden, dass er so über sich denkt? Ein fünfjähriger Junge, der sich selbst hasst. Es ist gut, dass Metro World Child sich um diese Kinder kümmert. Dass wir Zeit mit ihnen verbringen und positiv in ihr Leben reden und sagen, dass sie einzigartig und besonders sind.

Letzte Woche saß ich mit einem Jungen für bestimmt 30 Minuten im Flur vor seiner Wohnung und wir haben geredet: Über Leben und über Tod. Und ich meine wirklich über Tod, denn dieser ist dank Bandenkriminalität und Gewalt nicht außergewöhnlich. Wenn man sich diese Zeit nimmt, schenkt man den Kids ein Stück Normalität. 23 Stockwerke, 18 Sozialwohnungen pro Stockwerk, 1000 Menschen in einem Gebäude, wo man den Gestank des Mülls nur dank des ständigen Marihuana-Geruchs aushält.

Wo fünf Türen weiter ein Drogendealer seinen Stoff verkauft. Wo alles so unnormal ist, aber für diese Kinder normaler Bestandteil ihrer bitteren Welt. Eine Welt, wo Kinder mir von Schießereien berichten. Wo jedes Kind weiß, wie ein Schuss klingt. Wo die Polizei uns auffordert zu gehen, weil es zu gefährlich sei. Und wir uns aber manchmal entscheiden zu bleiben. Eine Welt, wo wir auf der Straße von vermissten Kindern hören, die wahrscheinlich schon tot sind. Eine Welt, wo die Grablichter vor den Hochhäusern selten ganz erloschen sind. Eine Welt, die keine 20 Minuten von den glitzernden Straßen Manhattans entfernt liegt.

Oft werde ich gefragt, ob es sicher ist, sich hier zu bewegen. Die Antwort lautet: "Nein". Wenn ich in meinem Gebiet unterwegs bin, bin ich auf Stunden der einzige Weiße. Und doch können wir uns relativ frei bewegen, weil wir von Metro sind. Metro macht dieses Programm seit gut 30 Jahren, und in den Projects kennt uns jeder und die meisten respektieren uns. Metro ist Bestandteil der inner-city-culture.

Doch es gibt auch die andere Seite. Wo wir physischen und psychischen Herausforderungen ausgesetzt sind. Mein Team wurde in den letzten Wochen mit Eiern beworfen. Andere Teams mit Steinen und Glas. Es ist eine verrückte Welt, und oft möchte man dem am liebsten den Rücken kehren und gehen. Doch es gibt auch viele sehr coole Momente. Momente, wo man einen ganz kleinen Unterschied macht, der jedoch vielleicht in Jahren Früchte tragen wird.

Viele Grüße ins schöne Bonn, Timo

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort