Lorenz Salomon Beckhardt sucht jüdische Alltagsgeschichten „Koscher und Currywurst sind gleichberechtigt“

Beuel · Juden und andere Gruppen in der Gesellschaft: Aus Sicht von Lorenz Salomon Beckhardt (60) wissen wir voneinander zu wenig. Immer wieder spricht der Beueler, Sohn von Überlebenden der Shoah, über jüdisches Leben. Das möchte er nicht nur an Gedenktagen machen.

 Der Beueler Lorenz Salomon Beckhardt ist Mitglied der Kölsche Kippa Köpp, des weltweit einzigen jüdischen Karnevalsvereins.

Der Beueler Lorenz Salomon Beckhardt ist Mitglied der Kölsche Kippa Köpp, des weltweit einzigen jüdischen Karnevalsvereins.

Foto: Benjamin Westhoff

Es sind zwölf Jahre, deren Auswirkungen auch Jahrzehnte später betroffen machen. Kaum Worte gibt es für das, was zwischen 1933 und 1945 geschah: für den Holocaust, den Völkermord an bis zu 6,3 Millionen europäischen Juden. Für den Genozid an Sinti und Roma. Für weitere Gräueltaten im Namen des Nazi-Regimes. Der Beueler Lorenz Salomon Beckhardt (60) findet dafür Worte. Regelmäßig spricht er als Kind von Shoah-Überlebenden vor Bonner Schülern. Wie zuletzt anlässlich des Gedenkens an die brennenden Synagogen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.

„Das ist nach wie vor wichtig“, sagt Beckhardt. Zugleich ist ihm dies 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs aber zu wenig. Er möchte den Blick auf die Spuren jüdischen Lebens in der Gegenwart lenken. Auf die Alltags-Geschichten, die es auch in Bonn gibt. „Uns Juden fällt immer wieder stark auf, dass die Gesellschaft oft an tote Juden denkt, aber weniger an lebende“, sagt Beckhardt. Deshalb hat er jüngst zum dritten Mal vor Schülern des Beethoven-Gymnasiums gesprochen. Von 1972 bis 1981 besuchte er es selbst. Auch das Veranstaltungsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ist aus seiner Sicht bedeutsam. Wichtig ist ihm dabei, Vergangenheit und Gegenwart zu verknüpfen. Spuren jüdischen Lebens hinterlässt Beckhardt übrigens auch in der fünften Jahreszeit: Er ist Mitglied der Kölsche Kippa Köpp, des weltweit einzigen jüdischen Karnevalsvereins. „Perfekter integriert kann man als Jude im Rheinland nicht sein“, sagt Beckhardt.

Lange kein Thema in der Familie

Dass es die Spuren jüdischen Lebens auch in seiner Familie gibt, war ihm lange nicht bewusst. Als Sohn von Melitta und Kurt Beckhardt war er 1961 in Wiesbaden zur Welt gekommen. Seine Mutter (86) lebt in Oberkassel, sein Vater verstarb 2015. Beckhardt ist zudem der Enkel von Fritz Beckhardt, der höchst dekorierte deutsch-jüdische Kampfflieger im Ersten Weltkrieg. Sein Großvater starb etwa ein Jahr nach der Geburt Beckhardts. Seit 1972 lebt er in Bonn, studierte nach dem Abitur an der Universität Bonn Chemie. Seit 30 Jahren arbeitet Beckhardt als Journalist und ist seit vielen Jahren Redakteur beim WDR mit dem Schwerpunkt Wissenschaft. Er arbeitet etwa für die Fernsehsendung Quarks. Erzogen wurde Beckhardt zunächst im römisch-katholischen Glauben. Erst bei einem Familientreffen 1979 erfuhr er, dass die Familie jüdisch ist. Ein Cousin der Großmutter hatte den damals 18-Jährigen mit dem Hinweis überrascht, dass er „als Kind von Nazi-Verfolgten“ nicht in der Bundeswehr dienen müsse. Mehr als 30 Jahre nach Kriegsende war die Vergangenheit zuvor kein Thema in der Familie gewesen.

Das Schweigen zu durchbrechen, über deutsch-jüdisches Leben zu sprechen, auch losgelöst von den Jahren zwischen 1933 und 1945, ist Beckhardt ein Anliegen. Dabei sind ihm Besuche in Schulen gerade in Zeiten eines wieder stärker sichtbaren Antisemitismus wichtig. Aber eben nicht nur an Gedenktagen wie am 9. November (1938) oder 27. Januar (1945). „Wir sind eine vielfältige, bunte Gesellschaft, und das Judentum lebt hier seit fast 2000 Jahren. Neben den zwei traditionellen Gedenktagen mit negativer Konotation gibt es 363 Tage, an denen wir uns positiv begegnen können“, sagt Beckhardt.

Porträts zeigen Alltag von Bonner Juden

Wer heute nach Spuren jüdischen Lebens suche, „hält den Blick zu oft gesenkt“, meint Beckhardt, etwa „auf der Suche nach Stolpersteinen und Gedenktafeln“. Ein Beispiel, wie es anders gehen kann, zeige die Ausstellung „Jüdisches Leben im Großraum Bonn“ als Teil eines Projekts zum Veranstaltungsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Beckhardt hat die Eröffnungsrede gehalten. „In der Ausstellung spielt das Thema Holocaust nur eine kleine Nebenrolle. Da werden jüdische Menschen aus Bonn in Porträts gezeigt, mit ihren extrem unterschiedlichen Geschichten und mit deutschen, russischen und israelischen Wurzeln“, sagt Beckhardt. Rund 1000 Juden gebe es seiner Schätzung nach derzeit in Bonn.

Aus seiner Sicht gebe noch viele Defizite bei der Wahrnehmung auch großer Minderheiten innerhalb der Gesellschaft. „Klischees und Schablonen“ würden den Blick prägen. „Offenbar begegnen wir uns viel zu selten im Alltag, sonst wären die Geschichten in den Medien gar nicht so interessant. Sie werden erzählt, weil sie irgendwie überraschend für uns sind, obwohl sie sich schon seit Jahrzehnten nebenan ereignen. Christliche Deutsche, muslimische Deutsche, jüdische Deutsche und alle anderen – wir sind uns noch immer zu fremd“, sagt Beckhardt.

Religiöse Toleranz in der Familie

Er selbst lebt als säkularer Jude, praktiziert also nicht den Glauben. Innerhalb der Familie, zu der neben seiner nichtjüdischen Ehefrau Ulrike (58) auch seine Mutter Melitta (86) und Schwester Katja (54) sowie Nichten, Neffen, Cousins, Cousinen und zahlreiche Verwandte in Israel gehören, werde religiöse Toleranz gelebt. „Koscher und Currywurst sind gleichberechtigt, nur nicht für jeden und nicht an bestimmten Feiertagen“, sagt Beckhardt und schmunzelt. Zudem habe Beckhardt als jüdischer Deutscher nur wenige negative Erfahrungen machen müssen. „Ich habe noch nie einen körperlichen Angriff erlebt“, sagt er, „aber natürlich dumme Sprüche“. Antisemitismus und Rassismus seien nach wie vor in Deutschland verankert. „Um Antisemitismus zu bekämpfen, muss man zuerst die Dummheit bekämpfen“, sagt Beckhardt.

Antisemitismus sei überdies „ein einzigartiges Phänomen in unserer Gesellschaft“, sagt Beckhardt: „Der Jude ist der Sündenbock für alles, was die Alltagsroutine der Mehrheit stört. Das ist eine spezielle Form des Rassismus. Der Antisemit sagt dir nicht nur, dass du fremd und anders bist, sondern auch gerissen, hinterhältig, schlau und gefährlich. Deshalb geht es beim Antisemitismus nicht nur um Ausgrenzung, sondern immer auch um Vernichtung. Das ist eine uralte, leider hochwirksame Verschwörungserzählung.“

Kein Angleichen der Minderheiten

Dennoch könne es nicht um ein schieres Angleichen der verschiedenen Minderheiten an die Mehrheitsgesellschaft gehen. „Normalität zwischen uns und der Mehrheit, was soll das sein? Was bitte ist die Norm? Ich will natürlich auch als Jude wahrgenommen werden, nicht nur als Mensch, Bürger oder Deutscher. Normalität heißt bestenfalls, dass ich als Jude genauso selbstverständlich und unaufgeregt wahrgenommen werde wie ein Christ, Moslem, Buddhist, Hindu oder Atheist“, sagt Beckhardt.

Einen Wunsch hat er mit Blick auf das Veranstaltungsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“: Dass möglichst viele Deutsche etwas davon mitbekommen. „Es wäre toll, wenn 30 oder 40 Prozent der Bevölkerung danach sagen würden: Juden und das Judentum sind mir jetzt weniger fremd als vorher. Das wäre ein großer Fortschritt. Denn wir sollten jetzt nicht warten auf ‚1800 Jahre jüdisches Leben in Deutschland‘ und die nächsten 100 Jahre nichts tun“, sagt Beckhardt.

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