Einmal im Monat Pflegerinnen führen demenzkranke Patienten zum Tanzen aus

VILICH · Wer ist Frau Gillessen? Hannelore Krüger sitzt im roten Auto der Caritas und erinnert sich nicht. Dabei hat die 87 Jahre alte Frau im mintgrünen Seidenkleid vor einem Monat schon einmal hier gegessen, und im Monat davor auch. Und hat mit Frau Gillessen einen ganzen Nachmittag in der Tanzschule verbracht. Das erklärt Pflegerin Ana Barquero ihr nun geduldig. "Die Tante ist müde", sagt Krüger nur.

 Normalerweise ist Ana Barquero die Pflegerin der Seniorin Marianne Gillessen. Aber einmal im Monat werden die beiden zu Tanzpartnern und wagen sich gemeinsam aufs Parkett.

Normalerweise ist Ana Barquero die Pflegerin der Seniorin Marianne Gillessen. Aber einmal im Monat werden die beiden zu Tanzpartnern und wagen sich gemeinsam aufs Parkett.

Foto: Max Malsch

Im Innern des Hauses sitzt Marianne Gillessen in ihrem Sessel. Blaue Stoffhose mit Bügelfalte, weiße Bluse mit Blümchen-Stickereien. "Aus Österreich", sagt sie. Fehlt noch der Schmuck. Aber der ist im Safe. Und wo der Schlüssel ist, weiß Gillessen nicht. "Noch Lippenstift", sagt ihre Pflegerin Ana Barquero. Aber Gillessen wirft ihren dürren Körper weit in den Sessel zurück und sträubt sich lachend gegen den roten Anstrich.

"Ana", nennt Gillessen ihre Pflegerin. Oder "Liebchen". Oder "Schatz". Aber Lippenstift: Das kommt der weißhaarigen Frau doch reichlich albern vor. "Gib mir lieber ein bisschen von deiner Brust ab", sagt sie und lacht wie ein Backfisch. Später, am Eingang der Tanzschule, wird sie fragen: "Sehe ich passabel aus?" Und dann doch befinden: "Mit 90 müssen wir den Männern nicht mehr gefallen." Aber wohin es denn eigentlich noch mal gehe, will sie nun erst einmal wissen.

Ein nachlassendes Kurzzeitgedächtnis: Das ist das erste Symptom einer Demenzerkrankung, deren am häufigsten auftretende Form Alzheimer ist. Später verlieren sich länger zurückliegende Gedächtnisinhalte, Müdigkeit kommt hinzu. Die Betroffenen werden steif am ganzen Körper. Ihr Gang wird kleinschrittig, schlurfend und breitbeinig. Auch Änderungen der Persönlichkeit wie Aggression, Depression, Angst, aber auch Enthemmung und Euphorie treten auf. Im weit fortgeschrittenen Stadium erkennen die Betroffenen schließlich nicht einmal ihre engsten Angehörigen wieder.

Mit dem nachlassenden Gedächtnis kommt für viele auch die soziale Isolation. Um den von ihnen betreuten Pflegebedürftigen und anderen Demenzerkrankten ein wenig Normalität zurückzugeben, haben der Bonner Caritasverband und das Tanzhaus Bonn im Januar in den Vilicher Arkaden ein neues Projekt gestartet, "Wir tanzen wieder" - ein monatlicher Tanznachmittag für Menschen mit und ohne Demenz. "Wir sind überwältigt, wie viele Menschen das Angebot annehmen", sagt Birgit Ratz vom Bonner Caritasverband, die das Projekt ins Leben gerufen hat. "Das zeigt: Der Bedarf ist da." Rund 50 Senioren waren an den ersten beiden Terminen da, plus Pflegerinnen und Betreuer macht das 80. "Wir müssen über einen größeren Saal nachdenken."

Die Tanzfläche des Tanzhauses ist auch an diesem Tag voll mit Menschen, ein buntes Gemisch aus Pflegerinnen und Senioren, dazwischen ein paar ältere Pärchen. "Que sera, sera" tönt aus den Boxen und aus 80 Kehlen dazu. Nicht ein Gesicht unter den 80, das nicht selige Freude ausstrahlt. Ein 90 Jahre alter Mann tanzt mit seiner Pflegerin. Hager, Haut wie Papier, aber eine Haltung wie ein Profi. Seine Pflegerin trägt ein eng anliegendes Wollkleid, hohe Stiefel. Sie hat sich geschminkt und ihre Haare hochgesteckt. Der Walzer geht zu Ende, es folgt ein Cha-Cha-Cha, ein Foxtrott. Das Lächeln des Mannes bleibt.

Andere wippen nur vorsichtig mit den Füßen. Ein Herr im graumelierten Anzug trägt einen schwarz-gelben Anstecker mit Blindensymbol am Revers. Er sitzt an einem der Tische und bewegt seine Hand zum Takt der Musik, wie ein Dirigent und lächelt versunken. Zwei Schlager später wird auch er auf der Tanzfläche stehen.

Das Tanzen beginnt schon auf dem Parkplatz. Marianne Gillessen, auf der einen Seite von Ana Barquero gestützt, auf der anderen von ihrer Krücke, wiegt sich im selbst angesagten Takt "und rechts, und links, und rechts, und links". Zu ihrer Rechten stützt eine Pflegerin Hannelore Krüger, die nur sehr kleine Schritte machen kann. Eine Frau grüßt die Gruppe freundlich. "Wer war das?", fragt Krüger drängend. "Ein Bekannte?" Nein, nur eine Passantin. Krüger atmet erleichtert auf.

Und das Tanzen setzt sich auf der Tanzfläche fort. Eng umschlungen und ohne Scheu wird Gillessen beim Tango von einer Pflegerin durch den Raum gewirbelt. Ana Barquero hat Hannelore Krüger bei den Händen gefasst und macht ihr einen verführerischen Hüftschwung vor. Dann muss Gillessen eine Verschnaufpause machen. "Ich bin 90 Jahre alt und nicht, wie die anderen hier, 60 oder so", sagt sie. "90 Jahr, weißes Haar", singt Barquero ihr vor und lacht das ihr eigene, breite Lachen. Sie ist seit sechs Uhr auf den Beinen. Seit etwa fünf Jahren pflegt die 44-Jährige die beiden Frauen. "Normalerweise haben wir eine halbe Stunde pro Person Zeit. Das reicht für die Pflege. Aber hier lernen wir die Pflegebedürftigen ganz anders kennen."

Gillessen wohnt, genau wie Krüger, in ihrem eigenen Haus. Ihre Tochter kommt jeden Tag vorbei. Und die Enkel sind oft da. Ihre Namen kann sie aufzählen, das Alter weiß sie nicht. "Ich ärgere mich oft über mich selbst, dass ich meine Gedanken nicht beieinander halten kann. Ich schäme mich", sagt sie leise.

Die Tanznachmittage in Vilich sollen auch Erinnerungen wecken. Erinnerungen, die oft nicht mehr im Bewusstsein, aber in den Beinen stecken. Und tatsächlich ist vielen die Tanzerfahrung anzusehen. Sie selbst hat das Tanzen in Euskirchen gelernt, erinnert sich Gillessen. Und ihren Mann am Tag des Kennenlernens zum Tanzen ausgeführt. Aber gerade ist es nicht die Tanzfläche, nicht das Tanzschulen-Flair, das in ihr Erinnerungen weckt. "Diese großen, hellblauen Augen", bewundert sie eine Betreuerin, die ihr am Tisch gegenüber sitzt. "Mein Mann hatte auch so schöne blaue Augen."

Ein letzter Tanz, dann ist es 16 Uhr und Zeit sich zu verabschieden. In getrennten Autos geht's nach Hause. Auf dem Parkplatz verabschieden sich Marianne Gillessen und Hannelore Krüger voneinander. Im Mai werden sie wieder gemeinsam tanzen gehen. Und Krüger wird wieder fragen: Wer ist Frau Gillessen?

Wir tanzen wieder

Der nächste Tanznachmittag findet am Donnerstag, 22. Mai, von 14.30 bis 16 Uhr, im Tanzhaus Bonn, Gartenstraße 102, statt. Es folgen weitere sechs Termine bis zum November. Der Eintritt kostet fünf Euro. Auch Menschen ohne Demenzerkrankung sind herzlich eingeladen. Gefördert wird das Projekt von der Caritas Stiftung Bonn. Sie übernimmt auch die Teilnahmegebühr für bedürftige Senioren mit Bonn-Ausweis. Gekrönt wird die Veranstaltungsreihe am 23. Oktober mit einem Tanzball.

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