Das Fest fiel trotz allem nicht ins Wasser So war das Jahrhunderthochwasser 1993 in Bonn

Beuel · Zeitzeugen erinnern sich an das Fiasko – und wie sie trotzdem Weihnachten feierten. Die improvisierte Bescherung bleibt der Familie Schommertz in bester Erinnerung.

 Traditionen sind Traditionen: Vom Hochwasser ließ sich die Familie dieses Mädchens nicht beirren und transportierte den Christbaum kurzerhand auf einem Schlauchboot.

Traditionen sind Traditionen: Vom Hochwasser ließ sich die Familie dieses Mädchens nicht beirren und transportierte den Christbaum kurzerhand auf einem Schlauchboot.

Foto: Max Malsch

Weihnachten 1993 stand der Familie von Gertrude Jöbsch das Wasser buchstäblich bis zum Hals. „Der Scheitelpunkt war am 23. Dezember erreicht“, erinnert sich die 85-Jährige. „Da sind wir geflüchtet, morgens um 8 Uhr.“ In einem Faltboot verließ die Familie mit hochbetagten Großeltern und Hund das Haus Rheinaustraße 271. Als Notunterkunft diente Gertrude Jöbsch die Wohnung ihrer Tochter Barbara Schommertz und deren Mann Raimund in Schwarzrheindorf. „Wir hatten erst zwei Monate vorher geheiratet“, berichtet Barbara Schommertz, 55. „Und dann haben wir in unserer Drei-Zimmer-Wohnung ein improvisiertes Weihnachten gefeiert, wovon alle sagen, es war das schönste ihres Lebens.“

Im Wohnzimmer von Gertrude Jöbsch treffen sich Zeitzeugen des Beueler Jahrhunderthochwassers, um an die Ereignisse vor 25 Jahren zu erinnern, darunter Norbert Reppelmund, 81, der sich damals als Nothelfer engagierte, sowie Reinhold Schmerbeck, 76, der in der Ringstraße 10 A selbst massiv vom Hochwasser betroffen war – und auch um das Heimatmuseum an der Wagnergasse fürchten musste. Im Museumskeller hat der stellvertretende Museumsleiter eine Furcht einflößend hohe Markierung des damaligen Wasserstandes angebracht.

„Dann kam erst das Grundwasser“

Schmerbecks Wohnhaus an der Ringstraße liegt an einer tief angelegten Fläche, auf der sich früher ein Fußballplatz befand. „Als es in der Grube anfing zu gluckern, ging es los“, erinnert er sich. „Dann kam erst das Grundwasser hoch und sammelte sich. Gleichzeitig stieg das Oberflächenwasser. Man sah es über die Rheinaustraße kommen und die Ringstraße hochklettern.“

Barbara Schommertz sagt: „Wir mussten das Auto wegfahren, bevor die Wiese komplett voll war.“ Ein Nachbar verpasste den Moment, bis zu dem er noch rausfahren konnte. Notgedrungen steuerte er seinen schicken Sportwagen hoch auf die Terrasse. Ein anderer hatte weniger Glück, erinnert sich Norbert Reppelmund: „In der Ringstraße zwischen Elsa-Bränd-ström-Straße und Rheinaustraße wohnte ein Autohändler, der hatte im Innenhof ein Dutzend Autos stehen. Als er den ersten Wagen in Sicherheit gefahren hatte und zu Fuß wieder zurückkam, waren die anderen Autos abgesoffen.“

Raimund Schommertz nennt das Elternhaus seiner Frau liebevoll „die Hallig von Beuel“. Barbara Schommertz erläutert, warum das so ist: „Bei Pegel 9,50 Meter läuft das Wasser in die Garage. Bis zehn Meter leben wir noch recht entspannt mit dem Hochwasser.“ Denn die eiserne Verbindungstür von der Garage zum Haus hält die Bewohner bis zum magischen Pegel von zehn Metern trocken. „Dann erst läuft der Keller voll.“

Beim Jahrhunderthochwasser war das leider so. Gertrude Jöbsch verfolgte den rasanten Anstieg des Rheins über Radio und Videotext und schrieb am 23. Dezember in ihr Notizbuch: „Wasserstand Keller 5 cm, Oma wird evakuiert.“ Barbara Schommertz berichtet, dass die Nachbarschaft vor 1993 noch regelmäßig Hochwasser-Partys gefeiert hatte. „Aber 1993 wurde es ernst. Da haben wir zum ersten Mal Panik bekommen.“

Während dessen lief auch bei Reinhold Schmerbeck der Keller voll. Zum Glück hatte er den Heizungsbrenner ab- und unter die Decke montiert. Hochwasser-Geschädigte haben eben eine besondere Affinität zu ihrer Haustechnik. Weil beim Hochwasser 1993 irgendwann der Strom ausgefallen war, rüstete RWE später einen Großteil der betroffenen Häuser auf Oberleitungsstrom um. Bei Gertrude Jöbsch steht seitdem ein Generator vor der Haustür. Doch den gab es Weihnachten 1993 nicht. Stattdessen feuchte Kälte in allen Räumen. Reinhold Schmerbeck erinnert sich, wie er sich beim damaligen Leiter des Heimatmuseums, Richard Wagner, aufwärmte: „Da saßen wir in Wagners Küche zu sechst vor einem Baustrahler.“ Sonst trug Schmerbeck häufig die obligatorische Wat-Hose, auch um eine betagte Nachbarin in der Rheinaustraße über ihr Schlafzimmerfenster mit Lebensmitteln zu versorgen. Zu Weihnachten waren fast alle Menschen in der Nachbarschaft evakuiert, berichtet Schmerbeck: „Meine Schwester aber sagte: Wir holen die Mutter.“ Die kleine Festgemeinschaft setzte sich in Decken um den Tannenbaum und zündete Wachskerzen an. „Plötzlich klopfte es an der Tür – und da stand der Bundesgrenzschutz mit einem Pott Suppe“, erinnert er sich. „So hatten wir für eine halbe Woche heiße Brühe.“ „Dagegen hatten wir ja fast schon luxuriöse Weihnachten“, sagt Barbara Schommertz. Acht Menschen und ein Hund feierten in der Drei-Zimmer-Wohnung mit Schlemmerfilet Bordelaise, zwei roten Weihnachtssternen, einigen grünen Tannenzweigen und selbst gebasteltem Christbaumschmuck. Und die 96-jährige Oma spielte auf dem Klavier. Trotz der Hochwassergefahr war Wegziehen für Gertrude Jöbsch und ihre Familie nie eine Option. „Es gibt einfach keine schönere Wohngegend als hier“, sagt Tochter Barbara. Und Gertrude Jöbsch würde auf die Frage „Was liebst du mehr? Das Haus oder den Rhein?“ immer wieder antworten: „den Rhein.“

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