Sexueller Missbrauch Eine junge Frau berichtet von ihren traumatischen Erfahrungen
BONN · Sonja Jetter ist eine fröhliche junge Frau mit einem ausgeprägten Sinn für Humor. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Doch im Falle der 25-Jährigen ist dies alles andere als selbstverständlich, wenn nicht gar erstaunlich.
Denn was die gebürtige Schwäbin in ihrer Kindheit und Jugend über sich hat ergehen lassen müssen, zieht nicht selten tief sitzende Traumata und Depressionen nach sich: Sonja Jetter wurde von ihrem Adoptivvater über zwölf Jahre lang schwer misshandelt und sexuell missbraucht.
Wenn die 25-Jährige von den dunklen Jahren erzählt, gefriert ihr Lächeln, die Gesichtszüge verfinstern sich, und die Stirn legt sich in tiefe Falten. "Meine Mutter war alleinerziehend, so dass ich bis zum vierten Lebensjahr hauptsächlich bei meiner Oma gelebt habe", erinnert sich Sonja Jetter an die wenigen Jahre ihres Lebens, in denen sie Liebe und Geborgenheit erfahren hat. Dann trat der Mann in das Leben ihrer Mutter, der ihr das Leben zur Hölle machen sollte. Um "ordentliche Verhältnisse zu schaffen", habe er auf eine zügige Heirat gedrängt und die damals Vierjährige ebenso schnell adoptiert. In den nächsten Jahren folgten vier weitere Geschwister.
"Aber er war nie der liebende Vater, sondern von der ersten Stunde an die Autoritätsperson, der man zu gehorchen hatte", sagt die heute 25-Jährige. Dies sei von Anfang an unter dem Deckmäntelchen des Glaubens geschehen. Denn der Mann, der als Zeitungsbote zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen hatte, war Oberhaupt einer von ihm gegründeten freikirchlichen Gemeinde. Von seiner Familie forderte der heute 57-Jährige Respekt und Gehorsam und verbreitete in den heimischen vier Wänden Angst und Schrecken.
Wir wurden ständig mit Bibelversen traktiert; zuhause herrschte Psychoterror und ein Drill wie auf dem Kasernenhof. Sein Wort war Gesetz", berichtet Sonja Jetter. Sehr schnell waren zudem Züchtigungen an der Tagesordnung. Dabei habe er alles, was er tat, als Gottes Willen verkauft: "Die Rute der Zucht treibt den Kindern die Torheit aus" lautete eines der biblischen Zitate, mit denen der Stiefvater sein brutales Vorgehen rechtfertigte. Hatte das Mädchen etwa bei den täglichen Klavierübungen die geforderte Disziplin vermissen lassen, wurde abends Gericht gehalten. Dazu habe sie sich mit entblößtem Po bäuchlings auf einen Stuhl legen müssen, bevor ihr Peiniger wie von Sinnen mit dem Rohrstock auf sie eingeprügelt habe. "Bis dahin hatte ich keine Gewalt erlebt. Plötzlich wurden Schmerzen und Demütigungen zu täglichen Begleitern", erinnert sich das Opfer an die Zeit ihrer verlorenen Kindheit.
Doch beim Prügeln blieb es nicht. Vielmehr entschloss sich der Stiefvater, auch das letzte Tabu zu brechen. Die als Krankenschwester tätige Mutter hatte Spätdienst, als er die damals Siebenjährige ins Bett brachte. Erst habe sie mit ihm kuscheln müsseln. Dann habe er sie unsittlich berührt und sie aufgefordert, ihn ebenfalls anzufassen. "Ich war wie in Schockstarre", erinnert sich Sonja Jetter an den Abend, der sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat. Fortan verging kaum ein Tag, an dem die Züchtigungen nicht mit sexuellen Spielarten verbunden wurden. "Oft lag ich abends im Bett und betete, dass mein Stiefvater einen Unfall haben und nicht mehr nach Hause kommen möge", berichtet die junge Frau rückblickend.
Das Leben des Mädchens geriet mehr und mehr aus den Fugen. Sie begann immer häufiger, die Schule zu schwänzen und griff regelmäßig in die Spendenkasse der Gemeinde, um sich mit dem Geld "was Gutes zu tun". Doch als die Klauerei aufflog, bekam sie die ungezügelte Wut des Stiefvaters zu spüren. Wie üblich hat sich die damals Zehnjährige in dem im Keller eingerichteten Versammlungsraum ausziehen müssen, bevor er sie an einen Stuhl fesselte, um mit einer Reitgerte minutenlang auf das wehrlose Kind einzudreschen. "Meine Beine waren grün und blau und von blutigen Striemen übersät", erinnert sich Sonja Jetter an die grausame Folter, nach der sie Zuflucht bei ihrer Großmutter gesucht hatte. Ihr hatte sie von den jahrelangen Misshandlungen erzählt, die sexuellen Übergriffe aus Scham jedoch verschwiegen. Die Sehnsucht nach der Mutter ließ sie nach etwa zwei Monaten ins Haus der Eltern zurückkehren. Seit diesem Tag blieben die Züchtigungen zwar aus, der Alltagsterror fand jedoch seine Fortsetzung.
Dies sollte sich auch nicht ändern, als die Familie an die Ahr zog - der Stiefvater hatte entschieden, sich einer dort ansässigen freikirchlichen Gemeinde anzuschließen. Im Gegenteil: Als sie 14 Jahre alt war, zwang der Stiefvater das Mädchen zu Nacktaufnahmen, und die Übergriffe begannen von vorn. Nach einem weiteren halben Jahr gelang es ihr, dem Treiben ihres Stiefvaters ein Ende zu setzen. "Mir war klar geworden, dass sein Vorgehen weder mit Gott noch mit dem Glauben etwas zu tun hatte. Plötzlich habe ich die Kraft aufgebracht, mich zu wehren", sagt Sonja Jetter.
Bis sie in der Lage war, sich jemandem anzuvertrauen, sollte es jedoch weitere sechs Jahre dauern. Damals hatte sie die schlimmsten Erlebnisse zu Papier gebracht, um sie unter Tränen einem Seelsorger in Bad Godesberg vorzutragen. "Das hat mich große Überwindung gekostet. Ich habe mich so geschämt", erinnert sich die junge Frau. Der Pastor riet ihr, die Polizei einzuschalten. Es dauerte allerdings noch ein Jahr, bis sie den Mut aufbrachte, auch diesen Schritt zu gehen.
Im März hat sich der 57-Jährige wegen 106-fachen sexuellen Missbrauchs und weiteren 24 Fällen der Vergewaltigung vor dem Koblenzer Landgericht verantworten müssen. Hinsichtlich der Vergewaltigungsvorwürfe, die sich laut Anklage zwischen Dezember 2002 und Februar 2003 ereignet haben, kam das Gericht jedoch zu einer anderen Bewertung. Denn nach den Schilderungen des Opfers hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das Mädchen gewaltsam bedroht worden sei oder sich in einer schutzlosen Lage befunden habe. Somit handele es sich nicht um Vergewaltigung, sondern um sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener. Dieser Tatbestand war allerdings verjährt. Die Anzeige erfolgte ein halbes Jahr zu spät. Justiziabel waren lediglich jene 104 Taten, die sich vor dem 14. Lebensjahr ereignet hatten. Dafür sprach das Gericht eine zweijährige Bewährungsstrafe aus.
Das Urteil empfindet Sonja Jetter als Schlag ins Gesicht. "In meinen Augen kommt das Urteil einem Freispruch gleich. Schuldig gesprochen und doch nicht bestraft", fühlt sich die 25-Jährige von der Justiz im Stich gelassen. Dass die Taten ab dem 14. Lebensjahr der Verjährungsfrist unterliegen, macht sie fassungslos. "Denn eine Seele verjährt nicht", betont sie. Sie wünscht sich, dass der Gesetzgeber den Opfern die Zeit einräumt, die sie benötigen, um sich zu öffnen. Mit einer Verlängerung oder gar dem Wegfall der Verjährungsfristen würde dem Mut, den Betroffene aufbringen müssten, auch juristisch Rechnung getragen.
Sie selbst bezeichnet sich als "starke Persönlichkeit mit einem ordentlichen Maß an Widerstandsfähigkeit", so dass sie die quälenden Jahre in ihrem Elternhaus auch ohne psychologische Betreuung recht gut verarbeitet habe. "Ich bin lebensfähig", sagt die junge Frau, die vor vier Jahren in ihre Heimatregion zurückgekehrt und mittlerweile selbst dreifache Mutter ist. "Mein Stiefvater hat meine Kindheit zerstört, aber ich lasse es nicht zu, dass er mein ganzes Leben kaputt macht", fügt sie hinzu, verschweigt jedoch nicht, dass sie bis heute regelmäßig von der Vergangenheit eingeholt wird. Immer wieder würden Wunden aufreißen, von denen sie geglaubt habe, dass sie längst verheilt seien.
"Frauen, denen Ähnliches widerfahren ist, denken, dass sie mit ihrem Schicksal alleine sind. Die Scham hält sie meist davon ab, sich Außenstehenden anzuvertrauen", weiß Sonja Jetter aus eigener Erfahrung. Deshalb möchte sie Betroffenen Mut machen. Denn wer schweige, schütze den Täter. Und: Wer in der Opferrolle verharre, bestrafe sich selbst, nicht aber den Täter. Deshalb bietet sie Frauen, die sich entschließen, den ersten Schritt zu tun, an, sich per E-Mail an mail-sonja@gmx.net mit ihr in Verbindung zu setzen.