Teilhabe im Unterricht Für Inklusion an Bonner Schulen fehlen Lehrer

Duisdorf · Luisa ist elf Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Welche Chancen hat sie, im Sportunterricht am Gymnasium mitzumachen? Lehrer und Sonderpädagoge Patrick Auerbach setzt dafür auf ein besonderes Trainingskonzept. An vielen Schulen in NRW fehlen aber Pädagogen, die so etwas umsetzen können.

 Beim Aufwärmen bildet sich schnell eine Gruppe von Schülerinnen, die sich mit Luisa einen Basketball zupassen.

Beim Aufwärmen bildet sich schnell eine Gruppe von Schülerinnen, die sich mit Luisa einen Basketball zupassen.

Foto: Benjamin Westhoff

Nach der großen Pause wird Luisa zur Königin ernannt. Nachdem Lehrer Patrick Auerbach ihr das Amt übertragen hat, fährt die Elfjährige mit ihrem Rollstuhl an das eine Ende des Spielfeldes. Ihre Mitschülerinnen verteilen sich darin. Dann beginnen die beiden Mannschaften in der Turnhalle des Helmholtz-Gymnasiums die erste Runde Völkerball – die anders ist, als man es kennt.

Außer Luisa gibt es noch zwei weitere Kinder mit Förderbedarf – also gewissen körperlichen oder geistigen Einschränkungen – in der Klasse. Was Auerbach im Sportunterricht macht, richtet sich nach einem speziellen Trainingsansatz, bei dem es darum geht, verschiedene Grenzen zu berücksichtigen – unter anderem die, die mit der gestellten Aufgabe verbunden sind. Deswegen hat er die Regeln beim Völkerball so abgewandelt, dass alle Schülerinnen mitmachen und ihre Stärken ausspielen können. Luisa etwa ist eine gute Werferin und wird deshalb zur Königin.

Anders als sonst stehen die getroffenen Spieler nicht um die Hälfte der gegnerischen Mannschaft herum. Stattdessen sind dort nur Luisa und die andere Königin unterwegs, um die roten weichen Bälle wieder zu ihren Mitspielern im Feld zu befördern. Durch die neuen Regeln will Auerbach das Spiel inklusiver machen.

NRW verabschiedet Gesetz zur Inklusion

Es ist fast zehn Jahre her, dass das Land NRW per Gesetz beschlossen hat, die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen umzusetzen. Menschen mit Behinderungen sollen an alle Bereichen des Lebens teilhaben können. Dazu gehört auch, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam eine Schule besuchen – und nicht an speziellen Förderschulen unterrichtet werden.

Der Sport biete ihm mehr Möglichkeiten, die Inklusions-Kinder teilhaben zu lassen, als andere Fächer, sagt Auerbach. In seinem zweiten Fach, Physik, könne das schon mal komplizierter werden. Er setzt dann zum Beispiel auf Experimente, die alle Kinder umsetzen können. Prinzipiell gehe es darum, alle Schüler mit Aufgaben zu versorgen, die sie fordern. „Auch Begabtenförderung ist Inklusion“, sagt Auerbach. Der Sportunterricht könne für die Kinder mit Förderbedarf ein Ausgleich zu den Fächern sein, in denen es mit der Teilhabe nicht ganz so gut funktioniere.

Kann es für die Inklusions-Schüler nicht frustrierend sein, wenn sie im Unterricht merken, dass sie auf einem anderen Level sind als die übrigen Kinder? „Diese Unterschiede nehmen sie gar nicht als so bedeutsam wahr“, sagt Auerbach. „Sie nehmen viel deutlicher wahr, ob sie ein Teil der Klasse sind. Es ist wichtig, dass sie das spüren.“

Im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern an Bonner Schulen hat Auerbach einen besonderen Blick auf den Unterricht, denn er hat nicht nur Lehramt studiert, sondern auch Sonderpädagogik. Am Helmholtz-Gymnasium ist er als regulärer Lehrer im Einsatz, betreut aber auch gezielt Inklusions-Kinder. Nebenbei bildet er an der Sporthochschule in Köln Sonderpädagogik-Studenten aus.

Für die Inklusion fehlt es an Sonderpädagogen

Wie schaut er darauf, was sich getan hat, seitdem das Land das Gesetz verabschiedet hat? „Es entwickelt sich“, sagt Auerbach. „Es gibt Dinge, die gut sind, und Dinge, die weniger gut sind.“ Zur ersten Kategorie gehört für ihn, dass die Schulen versuchen, die Vielfältigkeit der Gesellschaft abzubilden, dass Teilhabe in immer mehr Klassenräumen zu erleben ist.

Auerbach sieht aber auch, dass noch einiges zu tun ist. Es fehle an Räumen, in denen die Inklusionsschüler mal für sich seien oder besonders betreut werden können. Außerdem gebe es zu wenig Lehrer. „Wir brauchen deutlich mehr Sonderpädagogen. Es muss mehr Anreize geben, Sonderpädagogik – und auch Lehramt – zu studieren“, sagt Auerbach. Ihn habe damals sein Physiklehrer dazu motiviert, Lehramt zu studieren. „Der war“, sagt Auerbach und überlegt kurz, „herausfordernd“. Er wollte es besser machen.

Laut Schulministerium des Landes sollen in NRW bis 2025 zusätzlich 6000 Stellen geschaffen werden, um das gemeinsame Lernen in den Klassen 5 bis 10 zu unterstützen. Zudem seien bis zum Wintersemester 2020/21 rund 250 neue Bachelor-Studienplätze für Sonderpädagogik eingerichtet worden, noch mal so viele sollen in den kommenden Jahren folgen.

Die Zahlen seien ganz nett, und vielleicht sei Geld für 6000 neue Sonderpädagogen da, sagt Stefan Rau vom Verein „Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen“, der sich für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzt. „Aber die Schulen, die Sonderpädagogen einstellen können, finden einfach keine, und die Stellen bleiben unbesetzt“, sagt er. Dieses Problem bestehe seit zwei bis drei Jahren - landesweit und in Bonn.

Die zusätzlichen Studienplätze sind für Rau nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Studium und Referendariat würden circa sieben Jahre dauern – mindestens. Kurzfristig werde sich also wenig ändern. Dabei sei der Bedarf an Sonderpädagogen hoch. „Zehn Prozent eines Jahrgangs haben einen Förderbedarf“, sagt Rau. Derzeit versuche das Land, die Situation mit Quereinsteigern zu entschärfen oder damit, reguläre Lehrer weiterzubilden – für Rau „Flickschusterei“.

Nicht nur für Lehrer ist Inklusion eine Herausforderung

An den Schulen selbst sind es nicht nur die Lehrer, für die die Inklusion eine neue Herausforderung bedeutet. „Auch bei den Schülern müssen Ängste vor der Andersartigkeit abgebaut werden“, sagt Auerbach. Die Klasse ist nun seit fast einem Jahr zusammen. „Anfangs hatten die anderen Kinder zum Beispiel Hemmungen, Luisas Rollstuhl zu berühren“, sagt Auerbach.

Von Hemmungen ist in der Sportstunde wenig zu spüren. Beim Aufwärmen vor dem Völkerball bildet sich schnell eine Gruppe, die sich mit Luisa einen Basketball zuspielt. Weil sie nicht so gut fangen kann, lassen ihre Mitschülerinnen den Ball einmal auf den Boden springen, wenn sie zu ihr passen.

Am Ende, die Kinder sind schon in der Umkleide, steht Auerbach in der Sporthalle und erinnert sich an eine andere Stunde. Er hatte die Regeln beim Hockey so verändert, dass Luisa im Tor spielen konnte. Dass sei ihr erstes Mannschafts-Erlebnis gewesen. Luisas Begleiterin durch den Schulalltag habe ihm später erzählt, das Mädchen habe nach der Sportstunde noch vor Freude in seinem Rollstuhl gewippt. Auerbach sagt: „Es gibt nichts Schöneres, als zu sehen, was die Kinder im Sport und darüber hinaus erleben.“ Momente wie dieser sind für ihn ein Ansporn.

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