"Ohne Bonn keine Wiedervereinigung"

Am 9. November 1989 jubelt das Parlament im Wasserwerk wegen der überraschenden Grenzöffnung

"Ohne Bonn keine Wiedervereinigung"
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Bonn. Bonn, im November 2009. Was für ein Abend, was für eine Nacht vor zwanzig Jahren. Am 9. November 1989. Mitten in der Routine des Korrespondenten, ziemlich allein auf der Presse-Tribüne des Bundestages im Wasserwerk bei einer Debatte über Parteispenden und das Vereinsgesetz, blitzen in mir zwei Sätze auf. Der von Rob Meines, eines holländischen Journalisten aus dem Jahr 1986(!): "Ihr Deutschen seid schon mitten in der Wiedervereinigung, habt es nur noch nicht gemerkt."

Und der Schüttelreim von Wolf Mohr, eines in Thüringen geborenen Patrioten im Dienst des Bonner Sekretariats der Kultusministerkonferenz: "Die Welt erlebt nun Freud'sche Tage, da sie verdrängt die Deutsche Frage."

Warum kommt mir das in den Sinn? Selbst Menschen wie ich, die schon wegen ihrer Biografie - Heimatvertreibung und Flucht aus der DDR - stets auf die Überwindung der Grenzen und Mauern in Deutschland hofften, konnten es an jenem Donnerstagabend kaum fassen.

Der CSU-Schatzmeister Spilker überrascht das Parlament und alle im Saal mit dieser Sensation: "Bevor ich zu meinem Thema komme, möchte ich Ihnen eine Meldung vorlesen, die ich im Moment erhalten habe: Ab sofort können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen." Die Stenografen notieren: "Anhaltender Beifall bei der CDU/ CSU, der FDP und der SPD" und den Zuruf von Unionsabgeordneten: "Gott sei Dank". Nur die Grünen bleiben zunächst stumm.

Der Sturz Honeckers war im Bundestag noch ohne aktuellen Kommentar hingenommen worden, doch diesmal erfasst die Wucht einer neuen deutschen Wirklichkeit das Parlament. Die amtierende Präsidentin Annemarie Renger unterbricht die Sitzung.

Danach lassen der Chef des Bundeskanzleramtes Rudolf Seiters anstelle des noch in Warschau verhandelnden Bundeskanzler Kohl, der SPD-Partei- und Fraktionschef Hans Jochen Vogel, der Fraktionsvorsitzende der Union, Alfred Dregger, der Grünen-Sprecher Helmut Lippelt und der FDP- Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick sofort erkennen, dass die Reden von der Konsensfähigkeit in der nationalen Frage keine hohlen Worte sind.

Immer wieder gibt es Beifall von Abgeordneten aller Fraktionen. Als der FDP-Politiker Mischnick, dessen Lebenstraum es einmal gewesen war, Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Dresden zu werden, mit dem Aufruf an seine Landsleute in der DDR endet "Alle diejenigen, die jetzt noch schwanken, bitte ich herzlich: bleibt daheim!", geschieht etwas Unerwartetes. Die Abgeordneten Ernst Hinsken (CSU) und Hermann Josef Unland (CSU) stimmen die Nationalhymne an. Nach und nach stehen fast alle auf und singen "Einigkeit und Recht und Freiheit". Nur einige Grüne gehen hinaus, längst nicht alle.

Um 21 Uhr 10 sagt Vizepräsidentin Annemarie Renger: "Mit diesem großen Ereignis ist dieser Sitzungstag heute geschlossen." Viele blicken nun auf Willy Brandt, der mit gesenktem Kopf in sich gekehrt darüber nachzusinnen scheint, ob er wohl Recht bekommt, dass die Wiedervereinigung die "Lebenslüge" der Bundesrepublik sei. Erst später wird er sagen: "Nun wächst zusammen, was zusammengehört." Die Abgeordnete Liesel Hartenstein umarmt ihn beim Hinausgehen. Einer zitiert im Garten aus Heines "Nachtgedanken": "Ich kann nicht mehr die Augen schließen, und meine heißen Tränen fließen." Aber er fügt hinzu: "Dieses Mal sind es Freudentränen."

Am nächsten Morgen geht auch der Bundesrat nicht einfach zu seiner Tagesordnung über. Selten ist eine seiner Sitzungen so von einem historischen Ereignis bewegt worden wie diese 606. am Freitag, 10. November 1989. Es ist der Amtsantritt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Walter Momper, als Bundesratspräsident. Ein Berliner gerade in diesem Augenblick! Momper beginnt "mit einem ungewöhnlichen Geständnis": "Ich habe heute Nacht nicht geschlafen - und viele von Ihnen sicher auch nicht. Wer diese Nacht zum 10. November in Berlin erlebt oder am Fernsehschirm verfolgt hat, der wird sie nie vergessen. Gestern Nacht war das deutsche Volk das glücklichste Volk der Welt."

So begann in Bonn vor zwanzig Jahren der Weg zur Wiedervereinigung, die parlamentarisch hier vollzogen wurde. Oder wie der japanische Botschafter Takahiro Shinyo in diesen Tagen gesagt hat: "Ohne Bonn keine Wiedervereinigung." Auch das soll in dieser Zeit des Erinnerns nicht vergessen werden.

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