Hungerwinter 1916/17 in Bonn Als die Bonner Hunger litten

Bonn · Vor 100 Jahren hatte der „Steckrübenwinter“ auch das Rheinland fest im Griff. Die Versorgungslage für die Bonner Bevölkerung verschlechterte sich dramatisch. Wegen einer durch Kartoffelfäule verursachte Missernte, kommt die Steckrübe auf den Speisezettel.

 Waschkörbeweise belegte Brote: Rotkreuzschwestern bereiten in den Räumen an der Bonner Quantiusstraße Notrationen vor.

Waschkörbeweise belegte Brote: Rotkreuzschwestern bereiten in den Räumen an der Bonner Quantiusstraße Notrationen vor.

Foto: Adolf Plesser

Die Operette „Der Juxbaron“, gespielt im Palast-Theater an der Meckenheimer Straße (heute Thomas-Mann-Straße), vermag im Dezember 1916 in Bonn nur kurz gute Laune zu verbreiten. Denn wie in anderen Teilen Deutschlands verschärft sich auch in dem Städtchen am Rhein mit seinen 90.000 Einwohnern die Versorgungslage rapide. Das wilhelminische Kaiserreich ist dabei, auf den Höhepunkt der Ernährungskrise während des Ersten Weltkriegs zuzusteuern. Als „Steckrübenwinter“ werden gerade die ersten Monate des Jahres 1917 im kollektiven Bewusstsein erhalten bleiben.

Bereits zu Beginn der Adventszeit ist die Lage im Reich so prekär, dass das sieben Monate zuvor gegründete deutsche Kriegsernährungsamt am 4. Dezember 1916 die Beschlagnahme sämtlicher Vorräte an Steck- und Kohlrüben verfügt. Verschärft hat die Situation die britische Seeblockade. Um die Moral der Deutschen zu brechen, die etwa ein Drittel ihrer Nahrung aus dem Ausland bezogen, hat die Royal Navy unter Missachtung des (vom Empire nicht unterzeichneten) Kriegsvölkerrechts die Nordsee abgeriegelt.

Außerdem schließt Großbritannien Verträge mit neutralen Staaten, die daraufhin die Lebensmittellieferungen an das wilhelminische Deutschland einstellten. Und nicht zuletzt wird in der Landwirtschaft manche Arbeitskraft schmerzlich vermisst, die nun an einer der Fronten des Krieges steht. Steckrübenwinter im Rheinland

Steckrübenwinter im Rheinland
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Lebensmittelkarten und Holzsohlen

In Bonn bedeutet dies: Im Umgang mit Grundnahrungsmitteln gelten strengste Regeln – ob es nun um den Bezug von Kartoffeln, den Absatz von Konserven oder Hausschlachtungen geht. Für jeden Bonner gibt es Lebensmittelkarten. „Schwerarbeiter“ erhalten etwas mehr Brot, Vollmilch gibt es hingegen nur für Kinder bis zum sechsten Lebensjahr, schwangere und stillende Frauen sowie Schwerkranke.

„Die gewerbsmäßige Herstellung von Pflaumenmus ist verboten“, meldet der General-Anzeiger am 7. Dezember. Lehrer werden aufgefordert, unter den Schulkindern die Verwendung von Holzsohlen anzupreisen. Der Grund ist profan: Mangel an Leder. In den Küchen sind Ersatzprodukte Trumpf. Dort entsteht Brot aus Bucheckern und Eicheln, Pudding aus Leim oder Pfeffer aus Asche.

Besonders schlimm wirkt sich im Winter 1916/17 eine durch Kartoffelfäule verursachte Missernte aus. Nun beginnt die Zeit der Steckrübe. Selbst dieses ungeliebte Gemüse wird von den staatlichen Stellen beschlagnahmt. Wer sie in Bonn anbaut, hat sie auf dem Schlachthof an der Immenburgstraße abzugeben.

Rezepte für Steckrüben

Im General-Anzeiger, in dem sich bis zum Kriegsausbruch im Sommer 1914 das gesellschaftliche und nicht selten glanzvolle Leben der Stadt widergespiegelt hatte, liest man Anfang 1917 durchgehend Überlebenstipps – sei es in Form der neuesten Steckrübenrezepte oder der Warnung vor Wucherpreisen. Und Aufrufe der Stadtverwaltung, etwa zum sparsamen Umgang mit Strom und Gas. Oder zur Abgabe von Fahrradreifen, weil Gummi an der Front benötigt wird.

Mitte Januar 1917 lautet der Speiseplan für die Bonner Kriegsküchen: „Freitag: Graupensuppe mit Kartoffeln. Samstag: Steckrüben mit Sülze und Kartoffeln. Sonntag: Gemüsefleisch.“ Zentraler Ort der Lebensmittelausgabe in der Innenstadt ist die Feuerwache an der Maxstraße, wo sich schon morgens lange Schlangen bilden. Oft sind es Kinder, die dort stundenlang die Stellung halten.

Am 10.Februar 1917 notiert Anna Kohns aus Poppelsdorf in ihrem Tagebuch: „Die Leute haben nichts zu essen, und dann die bittere Kälte. (...) Wir essen jetzt Steckrüben und Knollen. (...) Wer hat das jemals gedacht. (...) In Friedenszeiten hat man die Dinger dem Vieh gefüttert, heute sind die Städter froh, dass sie welche zum Essen haben. So geht das in der Welt. Was aber mögen wir im Frühjahr essen, wenn die Steckrüben und Kartoffeln alle sind?“

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