Erfahrungsbericht aus Bonn Aus dem Leben einer Suizidgefährdeten

Bonn · Eine 20-jährige Bonnerin ist suizidgefährdet. Die Ursachen liegen in der Vergangenheit: Vom Vater sexuell missbraucht und geschlagen, von der Mutter im Stich gelassen. Doch die junge Frau arbeitet jeden Tag an sich – und möchte ihr Leben in den Griff bekommen. Ein Erfahrungsbericht.

Manchmal möchte sie einfach springen. Alles hinter sich lassen, ihr Dasein vergessen, ihr Leben beenden. Dann erscheint der Rhein wie die Erfüllung aller Wünsche. Das Aus, das Nichts. Endlich Stille und Vergessen. Doch dann ändert sich alles. Ein Mann, der sie zurückreißt. Den sie am liebsten verprügeln würde, weil er ihr und dem Tod im Weg stand. Doch schon wenige Sekunden später ist sie ihm unendlich dankbar. Eben weil er ihr das Leben gerettet hat, das sie doch eigentlich beenden wollte.

Es ist eine von vielen Situationen, die die 20-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, bereits erlebt hat. Wie oft sie sich das Leben nehmen wollte, kann sie schon fast nicht mehr zählen. Dem ersten Suizidversuch im Alter von 14 Jahren folgten viele weitere. „Es waren bestimmt 30“, sagt sie, und schaut aus dem Fenster ihres Zimmers in einer Klinik, in der sie derzeit behandelt wird.

Allein 15 Mal habe sie es in den vergangenen Monaten versucht. Davor war sie zwei Jahre lang frei, glücklich, gelöst. Der Grund: „Ich habe mich um meine Cousinen gekümmert.“ Die wurden von ihrer Tante und ihrem Onkel im Stich gelassen, die heute 20-Jährige übernahm – an der Seite ihrer Großmutter – die Mutterrolle. Und blühte auf. Vergessen waren Suizidgedanken, vergessen waren Selbstverletzungen. Doch dann kam der Einbruch. Die Oma konnte sich nicht mehr um die Kinder kümmern, die junge Frau selbst war zu dieser Zeit noch minderjährig. Die Folge: „Meine Cousinen kamen in Pflegefamilien.“ Und sie selbst fiel wieder in ein tiefes Loch.

Dass sie sich zuvor überhaupt daraus befreit hatte, spricht von einem sehr starken Charakter. Bis sie in die Schule kam, war eigentlich alles in Ordnung. „Mein Vater war wirklich der liebste Papa, den man sich vorstellen konnte.“ Doch dann verlor er seinen Job, fing an zu trinken. „Er wurde aggressiv und hat meine Mutter, meine Geschwister und mich geschlagen.“ Schließlich kam es auch zu sexuellem Missbrauch. Fünf Jahre dauerte das Martyrium. Dann wurden Nachbarn aufmerksam, informierten die Behörden. „Innerhalb von vier Tagen wurden wir aus der Familie genommen und kamen in Pflegefamilien.“ Denn die Mutter konnte sich ebenfalls nicht um die traumatisierten Kinder kümmern – sie war und ist drogenabhängig.

"Du warst der größte Fehler, warum habe ich Dich nicht abgetrieben?"

Die Geschwister wurden getrennt, haben (wenn überhaupt) nur sporadischen Kontakt. An ihrem 16. Geburtstag kam die 20-Jährige nach Bonn zurück. „Ich habe meine Mutter all die Jahre so vermisst und wollte wieder zu ihr.“ Doch der Empfang war alles andere als herzlich. „Als sie mich gesehen hat, hat sie gesagt: 'Du warst der größte Fehler, warum habe ich Dich nicht abgetrieben? Geh doch und bring Dich um, das ist das einzige, was Du kannst'.“

Zum Glück gab es die Großmutter, „sie war ein großer Halt für mich“. Auch gute Freunde sind an ihrer Seite, Kraft schöpft die 20-Jährige zusätzlich aus ihrer Arbeit bei einer Hilfsorganisation. Doch immer wieder gibt es Rückschläge. So musste die Oma ins Krankenhaus; verstarb dort vor Kurzem – in Anwesenheit der 20-Jährigen.

„Ich gebe mein Bestes, vorwärts zu kommen, aber wenn etwas passiert, wirft es mich drei Schritte zurück“, beschreibt sie. In der Klinik arbeitet sie jeden Tag an sich. „Das hilft mir auch größtenteils. Aber manchmal ist der Alltag sehr eintönig.“ Sie lebe kein normales Leben, sei nicht selbstständig.

Und immer wieder überfällt sie der Wunsch zu springen. Doch er ist nicht (mehr) die treibende Kraft. „Ich möchte mein Leben wieder in den Griff bekommen“, sagt die junge Frau nachdenklich. Außerdem hätte sie gerne ihre Geschwister um sich. Und: „Wirklich glücklich macht es mich, wenn ich Menschen helfen kann“, sagt die 20-Jährige und ein kurzes Strahlen gleitet über ihr Gesicht. „Dass gesehen wird, dass ich etwas mache, das richtig ist“, beschreibt sie. „Das liebe ich.“ Genau wie das Leben. Eigentlich.

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