Welttag des Autismus Außenseiter mit außerordentlichen Fähigkeiten

Bonn · Der 16-jährige Martin und seine Mutter berichten über eine Odyssee, bis die Diagnose stand und die Therapie erste Erfolge zeigte

Wie merkt die Mutter eines autistischen Jungen, dass ihr Sohn anders ist als Gleichaltrige? Silke T. schaut den 16-jährigen Martin an. „Du hattest eine andere Sprachmelodie. Du hast im Kindergarten nicht mitgespielt. Du hast lieber Aufgaben mit Zahlen gelöst“, antwortet Silke T. im Gesprächsraum der LVR-Klinik für Autismus.

So richtig wohl habe sich ihr Sohn damals offensichtlich gefühlt, wenn er aus Bastelpapier die kompliziertesten Formen faltete. „Damit konnte ich in logischen Schritten von einer Form in die andere übergehen, wie in der Mathematik“, schaltet sich jetzt Martin selbst ins Gespräch ein. Er spricht deutlich, aber schnell, um sich dann immer mal wieder auf ein langsameres Tempo zu konzen-trieren.

Nach einem Vorschultest hatte das Schulamt ihn damals sofort in die Grundschule geschickt. „Endlich“, habe er sich gefreut, erinnert sich die Mutter. Das Kind, bei dem irgendwas nicht stimmte, durfte lernen. Martin nickt. Aber dann widerspricht er: „In meinen Augen bin ich nicht anders, ich bin ich.“

Wie Eltern ein Kind mit Asperger-Syndrom begleiten

Silke und Martin T. haben sich mit ihrer LVR-Ansprechpartnerin, der Chefärztin Professor Judith Sinzig, bereit erklärt, dem GA darüber zu berichten, wie das Leben mit Autismus gelingen kann. Martins Werdegang zeige, wie gut Eltern ein Kind mit Asperger-Syndrom begleiten, fördern, aber auch schützen könnten, sagt Professor Sinzig.

Zudem beweise sich der Wert guter Netzwerkarbeit. Denn anfangs hatten sich auch Martins Eltern allein gefühlt mit ihrem Jungen, der sich ungeschickt bewegte, über andere Themen sprach als Gleichaltrige, der anders reagierte und deshalb aneckte. Sie schickten ihn zum Ohrenarzt, in psychosomatische und logopädische Behandlung. Doch in deren Raster passte Martin nicht hinein. „Wir haben eine Odyssee hinter uns. Wir wurden als erziehungsunfähig bezeichnet“, sagt Silke T. Heute kann sie fast darüber lachen.

Und wie lief es in der Grundschule? Das Lernen schien kein Problem zu sein. Aber nach dem Sport in der Umkleidekabine sei er gepiesackt worden. „Was willst du machen, wenn die ganze Klasse gegen dich ist?“, erinnert Martin sich. Die Lehrer beschwerten sich, er halte sich nicht an Regeln. Wenn er etwa die Bitte der Mutter, sich regennasse Haare zu föhnen, im Unterricht umsetzte, dann grölte die ganze Klasse. „Es war niemand da, ihm den Tipp der Mutter in der konkreten Situation zu übersetzen“, erläutert das seine Ärztin.

Diagnose war wie eine Befreiung

Irgendwann litt der Junge an massiven Essstörungen, gab zu Hause Tiergeräusche von sich. Die Familie war verzweifelt. Bis die ärztliche Diagnose Autismus vorlag: „Das war wie eine Befreiung. Endlich hatte das Anderssein einen Namen“, berichtet Silke T. Sie hätten sich umfangreich informiert. Und Martin bekam endlich einen Schulbegleiter an die Seite.

Silke T. half der Austausch in einer Selbsthilfegruppe. Da lernte sie: Sie waren keinesfalls allein mit der Diagnose. Doch bis sie auch einen Therapieplatz für Martin ergatterten, ging, wie Silke T. sagt, wertvolle Zeit verloren. Zumal sie damals eine weiterführende Schule suchten, die einen Jungen mit Asperger Syndrom integrieren wollte. „Da sagte dann dieser mutige engagierte Gesamtschullehrer: Wir möchten den Martin bei uns haben“, erinnert sich Silke T. dankbar. Mit im Boot war der vom Jugendamt finanzierte neue Schulbegleiter. „Erst hab' ich mir gedacht: Wie krieg' ich den wohl wieder los“, erzählt Martin mit seinem typischen trockenen Humor. Und dann habe er Vertrauen zu dem Begleiter gefasst. Wenn es eine offene, ehrliche Kommunikation zwischen allen Beteiligten gebe, dann klappe die Integration, resümiert Silke T.

Martin ist inzwischen gerne in der Oberstufe. „Da ist es anspruchsvoller. Und nicht so laut wie vorher. Die Störbrüder sind weg“, kommt messerscharf. Vor allem hilft ihm, wenn Abläufe genau geregelt sind. Und wenn Klausuren nicht in ihm unbekannten Räumen stattfinden.

Martin: Alle Steinchen des Mosaiks müssen da sein

„Überraschungen mag ich nicht.“ Was auch zu Hause gilt. Sie sorge dafür, dass ihr Sohn nicht durch Unvorhersehbares in Stress gerate, ergänzt die Mutter. „Letztlich steht und fällt alles mit Martin. Er kann sehr wütend werden. Aber auch unser zweites Kind muss zu seinem Recht kommen.“ Schweigen in der Runde. Und dann lobt Silke T. die Hilfe, die sie durch die Termine bei der LVR-Chefärztin erhalten. Beispielsweise fertigt sie Berichte an, die anderen Einrichtungen wichtig sind. Sie betreut die medikamentöse Behandlung, damit Martins Toleranzhemmschwelle nicht fällt. Sie ist Ansprechpartnerin auch bei Problemen.

Als sie letztens im Krankenhaus war, da habe sie sich auf das Netzwerk verlassen können, das inzwischen rund um ihren Sohn gespannt sei, erzählt Silke T. schließlich. „Das ist wichtig zu wissen: Wir werden entlastet. Wir sind nicht allein.“

Alle Steinchen des Mosaiks müssten da sein, drückt Martin selbst es aus. Ja, er sei sehr dankbar, dass seine Familie ihn so nehme, wie er ist: eben ein Mathematik-begeisterter Jugendlicher, der manchmal ein bisschen schnell rede. Jetzt huscht fast ein Lächeln über Martins Gesicht. Er kenne auch andere Familien, die unbedingt wollten, dass ihr Kind endlich „normal“ werde. „Aber was heißt das schon: normal?“

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