Sexualisierte Gewalt "Betroffene nicht aus dem Blick verlieren"

BONN · Seit mehr als 30 Jahren berät und unterstützt die Bonner Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt Frauen und Mädchen, die auf unterschiedliche Weise sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen erleiden mussten.

 Die massiven Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Köln auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs haben die Diskussionen über sexualisierte Gewalt und die aktuelle Flüchtlingsproblematik angeheizt.

Die massiven Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Köln auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs haben die Diskussionen über sexualisierte Gewalt und die aktuelle Flüchtlingsproblematik angeheizt.

Foto: dpa

Mit Geschäftsführerin Conny Schulten sprach Lisa Inhoffen.

Wie bewerten Sie die aktuelle Debatte nach den Übergriffen in Köln?
Conny Schulten: Wichtig ist es, in der Debatte die eigentlichen Betroffenen nicht aus dem Blick zu verlieren und dafür zu sorgen, dass sie Hilfe und Unterstützung bei der Bewältigung der traumatisierenden Erlebnisse bekommen. Der Fokus der Debatte liegt aktuell auf der Flüchtlingsproblematik und dem Vorgehen der Polizei, und nicht wenige versuchen, die Situation zur Durchsetzung von politischen Interessen zu benutzen. Das Thema sexualisierte Gewalt und der Schutz von Betroffenen sowie notwendige Hilfen sollten im Mittelpunkt der Diskussion stehen, und das unabhängig davon, welche Herkunft, Religion oder gesellschaftlichen Hintergründe die Täter haben.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Frauen seien oft selbst schuld, wenn sie sexuell angegriffen werden?
Schulten: Das ist ein altes Vorurteil und eines der Mythen, die dazu führen, dass Frauen nicht ernst genommen und sexuelle Übergriffe oft verharmlost werden. Wir erleben, dass Betroffene aufgrund solcher Bemerkungen sich nicht trauen, sexuelle Übergriffe zu benennen oder anzuzeigen. Frauen und Mädchen haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und darauf, dass ihre sexuelle Selbstbestimmung nicht verletzt wird, unabhängig davon, wo sie sich aufhalten, wie sie sich kleiden oder verhalten. Die Verantwortung für die Übergriffe liegt bei denen, die sie begehen, nicht bei den Opfern.

Wo fängt sexualisierte Gewalt an?
Schulten: Sexualisierte Gewalt bezeichnet alle Übergriffe und Grenzverletzungen, die das Mittel der Sexualität einsetzen, um Macht über andere auszuüben. Das können verbale Anmachen sein, sexualisierte Berührungen bis zu strafrechtlich relevanten schweren Gewalttaten. Entscheidend ist, dass sich jemand über die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person hinwegsetzt und ein Nein nicht akzeptiert.

Wo ordnen Sie das Verhalten eines Mannes ein, der einer fremden Frau/einem Mädchen "nur" hinterherpfeift oder anzügliche Bemerkungen macht?
Schulten: Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Sexismus, die sehr genau herausgearbeitet haben, dass auch vermeintlich "harmlose" Bemerkungen oder andere sexistische Verhaltensweisen nicht zufällig geschehen und die meisten Menschen sehr genau wissen, wo die Grenzen zwischen harmlosen Bemerkungen, einem Flirt oder bewusst übergriffigem Verhalten verlaufen. Anzügliche Bemerkungen sind herabwürdigend und werden als Machtmittel eingesetzt. Wer so etwas rechtfertigt, sollte sich besser fragen, warum ein Mann, der Frauen respektvoll und als gleichwertig betrachtet, es nötig haben sollte, sich so zu verhalten.

Wie kann eine Frau oder ein Mädchen sich selbst besser vor sexuellen Übergriffen schützen? Sollten sie künftig etwa Großdiscos oder öffentliche Partys meiden? Schulten: Nein, natürlich nicht. Es ist nicht einzusehen, dass Frauen und Mädchen ihr Verhalten ändern oder bestimmte Orte meiden, zumal wir wissen, dass die meisten sexuellen Übergriffe im sozialen Nahraum durch bekannte Personen verübt werden. Männer müssen lernen, die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen zu respektieren, und es muss zum Thema sexualisierte Gewalt noch viel mehr Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit geleistet werden. Die Verhaltenstipps, die nun überall gefordert werden und zu lesen sind, können dazu führen, dass Betroffene Schuldgefühle entwickeln, weil sie glauben, sie hätten die Übergriffe vermeiden können, wenn sie sich anders verhalten hätten.

Es wird behauptet, viele männliche Flüchtlinge aus arabischen Ländern sollen Frauen angeblich per se als Freiwild betrachten.
Schulten: Ich glaube, dass in der aktuellen Debatte viele rassistisch motivierte Vorurteile bedient werden. Es wird augenblicklich so getan, als sei sexualisierte Gewalt erst durch die Flüchtlingsproblematik in Deutschland zum Problem geworden. Wir haben nach wissenschaftlichen Untersuchungen jedoch belegte Statistiken, dass jede siebte Frau in Deutschland von sexualisierter Gewalt betroffen ist, von Tätern jeglicher Herkunft und das schon seit vielen Jahren. Studien aus dem Jahr 2004 und dem Jahr 2014 bringen da identische Ergebnisse. Das wird auch durch die über 30-jährige Beratungserfahrung unserer Beratungsstelle bestätigt. Natürlich müssen wir auch benennen, wenn patriarchale Bilder von Mädchen und Frauen und unterschiedliche Wertvorstellungen und Rollenerwartungen bei sexualisierten Übergriffen eine Rolle spielen. Das machen Frauenorganisationen seit vielen Jahrzehnten. Es macht mich persönlich wütend zu sehen, wie sich augenblicklich Männer und Gruppierungen, die nicht unbedingt für ihr Engagement für Frauenrechte bekannt sind, als die Beschützer deutscher Frauen aufspielen, ob das Hooligans sind, neu entstehende Bürgerwehren, Türsteher oder Pegida-Aktivisten. Es sollte endlich wahrgenommen werden, dass sexualisierte Gewalt ein gesellschaftliches Problem mit großem Ausmaß und Folgen ist, das in Deutschland leider oftmals nicht wahrgenommen wird.

Haben Sie Kenntnis davon, dass es in Flüchtlingsunterkünften schon zu Übergriffen gekommen ist?
Schulten: Konkret aus Bonn ist mir dies bisher nicht bekannt, was nicht heißt, dass es nicht vorgekommen ist. Es gibt jedoch Analysen, etwa vom Deutschen Institut für Menschenrechte zur Situation von Frauen und Mädchen in Flüchtlingsunterkünften, die auch viele Hinweise auf mögliche Gefährdungen und notwendige Maßnahmen enthalten. Wichtig ist unter anderem die Information von Frauen und Mädchen über Rechte und Schutzmöglichkeiten .

Sie fordern seit Langem eine Gesetzesänderung in Bezug auf sexuelle Übergriffe. Warum?
Schulten: In Deutschland ist eine sexuelle Handlung gegen den ausdrücklichen Willen einer erwachsenen Person bisher nicht immer strafbar. Strafbar ist sie nur dann, wenn entweder körperliche Gewalt angewendet wird, mit Gewalt gedroht wird oder eine sogenannte schutzlose Lage ausgenutzt wird. Es ist für eine Strafbarkeit nicht ausreichend, wenn die Betroffenen lediglich ?Nein? sagen. Die Strafbarkeit orientiert sich letztendlich am Grad des Widerstandes der Betroffenen. Hier ist dringend eine Gesetzesänderung auf der Grundlage europäischer Konventionen erforderlich, die alle nicht-einverständlichen sexuellen Handlungen unter Strafe stellen. Die sogenannte Istanbul-Konvention, ein Europarat-Abkommen zur Gewalt gegen Frauen von 2011, wurde von Deutschland zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Auch der aktuelle Referentenentwurf des Justizministeriums bringt zwar Fortschritte, aber reicht dazu immer noch nicht aus. Wenn man ernsthaft darüber reden will, sexualisierte Übergriffe zu verhindern, ist es wichtig, eine Haltung zu beziehen, die die Rechte von Betroffenen schützt, sie unterstützt und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht auf allen gesellschaftlichen Ebenen einfordert und durchsetzt. Und das nicht nur in punktuellen, populistisch geführten Debatten.

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