Analyse der Klimaschutzhauptstadt Bonn ist Heimat vieler Klimaschutz- und Energie-Vordenker

Bonn · Die Kommune marschiert beim Abschied aus der fossilen Ära in Deutschland vorneweg. Motor des Ganzen sind die Stadtwerke. Weniger bekannt ist, dass Bonn auch die Heimstatt vieler Klimaschutz- und Energie-Vordenker ist. Eine Analyse.

Der Kampf für das Zwei-Grad-Ziel ist auf der 23. UN-Klima-Konferenz auch einer gegen die Zeit. Das häufige Vertagen und Beschönigen eines Problems hat dazu beigetragen. Zwei weitere Faktoren: Das Klimasystem an sich reagiert träge, und die Lebensdauer des Kohlendioxids (CO2) in der Atmosphäre ist lange. Jedes CO2-Molekül, das der Mensch heute durch die Verbrennung von Kohle oder Öl freisetzt, wärmt noch rund 100 Jahre. Daraus folgt: Je früher die Welt mit dem Verlassen der fossilen Ära beginnt, desto weniger drastisch fallen die Nebenwirkungen einer CO2-Vollbremsung in Wirtschaft und Gesellschaft aus. So plausibel, so schwierig in der Umsetzung. Denn ein UN-Konferenzbeschluss muss in konkrete CO2-Einsparungstaten münden.

Von einem UN-Klimagipfel führen deshalb viele Leitern hinunter zur Ebene der Taten: 198 Staaten, 198 Leitern. Auf der untersten Sprosse sitzt der Einzelmensch, die kleinste Einheit der CO2-Vermeidung; er kann entscheiden, ob er viel, wenig oder gar kein Fleisch isst; er kann einen Gelände- oder Kleinwagen fahren oder ein E-Auto oder gar kein Fahrzeug und den öffentlichen Nahverkehr nutzen; er kann entscheiden, ob er im Winter in seiner Wohnung einen Pullover trägt und weniger heizt.

Nur 123 Gramm Kohlendioxid für eine Kilowattstunde

Nicht oder kaum beeinflussen kann der Bürger in einer Industriegesellschaft, wie klimafreundlich der Strom hergestellt wurde, der aus seiner Steckdose fließt, oder was das Wasser für das Warmduschen erwärmt. Auch die Vorgaben für Automotoren – definiert in Gramm CO2 pro Kilometer – wird einige Sprossen höher entschieden, etwa von der EU in Brüssel.

In den Städten regeln meist sogenannte Grundversorger, die Stadtwerke, alles das, was der Mensch hinter Steckdose und Warmwasser kaum beeinflussen kann. Beispiel Bonn. In der Stadt gibt es einige Feinstaub-Problemzonen, die aber kaum den CO2-Komplex berühren. Auch nörgeln Bürger gelegentlich über Busse und Bahnen und regelmäßig über die vielen Staus – und wissen nicht, dass vor ihrer Haustüre der beste öffentliche Nahverkehr (ÖPNV) Deutschlands rollt. „Zwischen einem sehr guten Nahverkehr und einem miesen Angebot können nur 25 Kilometer liegen“, berichtet die Zeit aus einer bundesweiten 50-Städte-Vergleichsstudie (2017) des Hamburger Beratungsunternehmens Civity.

„In Bonn kann man erleben, wie es mit Bussen und Bahnen gut vorangeht – wer anschließend eine kurze Strecke den Rhein abwärts fährt, findet in Köln das Gegenstück. Dass dort der öffentliche Nahverkehr nicht überzeugt, hat einen entscheidenden Grund: Netz und Takt sind erheblich schlechter.“ Bis 2030 soll zudem die gesamte Busflotte, rund 190 Schwergewichte, der Stadtwerke Bonn (SWB) keinen Tropfen Diesel mehr verbrennen. Nicht nur die aktuell sechs Elektrobusse, „sondern alle 190 werden 2030 zu 100 Prozent mit Naturstrom fahren“, prophezeit SWB-Sprecher Werner Schui. Dann wäre das Null-Emissions-Szenario im Bus-Nahverkehr perfekt.

Das klingt nach einer mutigen Vision, wie sie andernorts auch in Hochglanzbroschüren zu finden ist. Doch in Bonn ist es realistisch, weil die Stadt auch bei der Stromproduktion die grünste Deutschlands ist. Nicht nach eigenen Angaben, sondern nach einer Berechnung der Leipziger Umweltorganisation Klima ohne Grenzen, die die Stromherkunft der 20 größten deutschen Städte analysierte: Mit einem Anteil von Sonne, Wind & Co. von 69 Prozent im Strommix liegt die Bundesstadt auf Platz eins vor Frankfurt und München.

Der deutsche Durchschnittswert liegt bei 476 Gramm CO2pro Kilowattstunde, in Bonn bei 123 Gramm. Damit ist der Grundstein für die CO2-freie Busflotte eigentlich schon gelegt, und die Vision rückt nahe an die Wirklichkeit. Elektromobilität kann ja auch nur eine Shownummer – Klimaschutz zum Schein – sein, wenn etwa Strom aus klimaschädlicher Braunkohle den öffentlichen Nahverkehr auf Reifen antreibt.

Blickt man in die Stadtgeschichte, war es in Bonn zur vorletzten Jahrhundertwende wie überall: Kohle verbrennen und Energie ernten! 1879 starten die SWB ihre eigene Gasproduktion in der Karlstraße für die 30.000-Einwohnerstadt. Damit aus Steinkohle das begehrte Kokereigas wird, schuften 162 Mitarbeiter in Zehn-Stunden-Schichten und erhalten pro Schicht 4,20 Mark. Eine 24-Stunden-Sonderschicht bringt zwei Mark extra. Es ist die Zeit, als überall in Europa Fortschritt und Wohlstand auf den Schultern der Kohle entsteht.

129.000 Bonner Dachflächen tragen noch keine Solarzellen

Das Treiben besorgt einen der damals wichtigsten Physiker: Rudolph Clausius, 1884/85 Rektor der Bonner Universität, hatte den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik entdeckt und schrieb: „Wir verhalten uns wie lachende Erben, welche eine reiche Hinterlassenschaft verzehren“ – und empfiehlt, mehr erneuerbare und weniger fossile Energien einzusetzen. Eine zusätzliche Erwärmung der Erde hat er nicht auf dem Schirm, sondern die zu schnelle Ausbeutung der Kohlevorräte.

1902 löst in Bonn die mit Kohlestrom betriebene Straßenbahn die „Päädsbahn“ (Pferdebahn) ab und ruckelt über die nagelneue Rheinbrücke nach Beuel und zurück. Später kommen Busse hinzu, und das Straßenbahnnetz wächst. Überall lassen Kohle und Öl über Motoren den Raum schrumpfen, sorgen für Wärme im Winter, schaffen Arbeitsplätze. Da ist die Warnung, dass die Kohle-/Ölverbrennung über die CO2-Freisetzung die Lufthülle verändert, längst in der Welt.

Der Schwede (und spätere Chemie-Nobelpreisträger) Svante Arrhenius hatte 1896 gemahnt, dass die industrielle Revolution nicht nur den Wohlstand mehrt. Indem sie die „Kohleminen in die Luft jagt“, sei es möglich, „dass das die Erde derart aufheizt, dass es jenseits aller menschlichen Erfahrung läge“. Doch die Warnung bleibt lange im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Zudem wird gestritten: Schützt viel wärmendes CO2 nicht nur vor dem Frost des Alls, sondern vielleicht auch vor der nächsten Kaltzeit?

Seitdem (1958) der Mensch CO2 präzise messen kann, ändert sich die Bedrohungslage. Doch ein öffentliches Gesprächsthema sind steigende CO2-Kurve und Klimawandel lange nicht. Die Wissenschaft steht damals auf einer Klima-Erkenntnisstufe wie heute beim Insektensterben.

1975 mahnt der weltweit anerkannte Bonner Meteorologie-Professor Hermann Flohn, dass die Menschheit bald einen Energieumsatz in der Dimension natürlicher Klimaschwankungen erreiche. Noch sei etwa 20 Jahre Zeit, um politische Entscheidungen „ohne Rücksichtnahme auf die Wahlperiode“ zu treffen. Doch erst 13 Jahre später (1988) wird der Weltklimarat IPCC gegründet. Und es dauert nochmals 27 Jahre, bis die Weltgemeinschaft 2015 in Paris beschließt, dass die mittlere Erdtemperatur nur um 1,5 bis 2,0 Grad Celsius steigen soll.

Der Individualverkehr bleibt ein Problem

Wertvolle Jahrzehnte sind verstrichen, ohne dass die CO2-Weltemission gesenkt wurde. Doch nicht alle (ver)schlafen die unausweichliche Wende. Kalifornien ebenso wenig wie China. 7400 Städte aus aller Welt haben sich zum Beispiel im „Global Covenant of Mayors for Climate and Energy“ zusammengeschlossen, darunter allein 100 aus den USA. Bonn gehört auch dazu. Hier wurden (Forscher) und werden (Stadtwerke) die Zeichen der Zeit, das Ende der fossilen Ära, recht früh erkannt.

Wirksamer, umfassender Klimaschutz lässt sich nicht mit einer Entscheidung realisieren, sondern etwa mit einer lokalen Energiewende in dem Bewusstsein, dass dafür viele Hundert Trippelschritte nötig sind. In Bonn wurde der Schalter bereits um 1990 umgelegt und bereits 1988 aus Müll Strom und Fernwärme. Dann ging es weiter: Fernwärme-Ausbau, Straßenbahn-Recyling, E-Mobility, Beteiligung an einem Windpark in der Nordsee, Solarprogramme, Erdgas-Tankstellen und das neue Heizkraftwerk Nord, das die Müllverbrennungsanlage mit einem modernen Gaskraftwerk kombiniert. Das spart pro Jahr so viel CO2, wie 45.000 Mittelklassewagen bei einer jährlichen Fahrleistung von 20.000 Kilometern ausstoßen.

Der Individualverkehr bleibt indes ein Problem. Er nimmt weiter zu. Auch in Bonn steigt die CO2-Emission aus der spritgetriebenen Fortbewegung und egalisiert CO2-Einsparungen in anderen Bereichen. Für den Fall, dass tatsächlich bald das Zeitalter der Elektromobilität im Individualverkehr anbricht, hat die Stadt noch eine klimafreundliche Leistungsreserve: 129.000 Dachflächen tragen noch keine Solarzellen.

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