Sechs Tiere „lebendig begraben“ Eingesperrte Nutria-Familie aus Kanalrohr unter der Rheinaue gerettet
Bonn · Freiwillige haben eine Nutria-Familie aus dem Rohrsystem unter der Rheinaue gerettet. Die Tiere sind mutmaßlich nach den Arbeiten am Rheinauensee eingeschlossen worden und mussten tagelang ohne Futter in der Dunkelheit ausharren. Die Stadt Bonn weist die Schuld von sich.
Freiwillige haben vor wenigen Tagen sechs Nutrias aus der Kanalisation unter der Rheinaue gerettet. Die Tiere sind vermutlich nach den Sanierungsarbeiten des Rheinauensees dort eingeschlossen worden. Eine Video der Rettung wird derzeit vielfach auf Facebook geteilt. „Nutriafamilie in Bonn lebendig begraben“ - Diesen Titel trägt das knapp 40 Minuten lange Video, das am Mittwochnachmittag bereits hunderte Male geteilt worden ist. Zahlreiche Menschen zeigen sich in der Kommentarspalte fassungslos.
Was war geschehen? Als Stefan Böckling, Gründer der Initiative Tiernotruf e.V., nach Bonn gerufen wurde, hatten die sechs Nutrias bereits eine knappe Woche in der Kanalisation verbracht, ohne Futter und bei völliger Dunkelheit. Böckling konnte die Tiere zusammen mit freiwilligen Helferinnen und Helfern in einer achtstündigen Aktion aus dem Kanalnetz holen. Während der Sanierung des Rheinauensees hatten die Nutrias in einem Rohr, das in den seinerzeit leergepumpten See ragte, Zuflucht gesucht. Jeden Abend lockte eine Gruppe von Freiwilligen die Tiere aus der Röhre, um sie zu füttern. Als die Sanierungsarbeiten abgeschlossen waren und der Rheinauensee wieder volllief, waren die Tiere verschwunden. Der Grund: Das Rohr, in dem sie saßen, war mit einem sogenannten Ballon verschlossen worden, damit das Wasser aus dem See nicht abläuft.
Wie Böckling erklärt, hatten die Freiwilligen der Stadt Bonn zuvor ihre Hilfe angeboten, die Tiere aus der Röhre zu locken. Die Stadt soll darauf jedoch nicht eingegangen sein. Man habe Mitarbeiter geschickt, um das verzweigte Rohrsystem nach Angaben einer Sprecherin „sorgfältig“ nach Nutrias abzusuchen und das Rohr erst verschlossen, nachdem dort keine Tiere entdeckt worden seien.
Nutria-Familie saß in der Falle
Doch in den dunklen, engen Schächten, die teilweise zentimeterhoch mit Schlamm bedeckt sind, konnten sich die Tiere wohl gut verstecken, wie Böckling vermutet. Die Nutria-Familie saß in der Falle.


Denn auf der anderen Seite des Rohrs war ebenfalls kein Entkommen. Dort führt zwar ein Abfluss in Richtung Rhein, allerdings ist dessen Strömung wohl zu stark für die Tiere. Böckling erklärt: „Die Nutrias hätten dort im Stockdunklen hineinspringen müssen. Aber Nutrias sind nicht dumm. Die springen nicht in eine unbekannte Strömung, ohne zu wissen, wo sie ankommen.“
Die Stadt Bonn sieht das anders: „Das Kanalsystem führt in den Rhein. Am Ausgang ist ein Gitter mit jeweils elf Zentimeter großen Lücken zwischen den Stäben. Unter dem Gitter ist zusätzlich eine etwas größere Lücke, da hier etwas Beton weggebrochen ist“, schildert die Sprecherin der Stadt. Da sich Nutrias wie alle Nagetiere sehr flach machen können, sei die Stadt davon ausgegangen, dass Nutrias diese Öffnungen als Ausgang nutzen können. „In die andere Richtung, also als Eingang vom Rhein in das Kanalsystem, funktioniert die Öffnung allerdings nicht, da sich im Kanal etwas vor dem Gitter eine Stufe befindet.“
Stadt Bonn: Nutrias müssen erst später in den Kanal gelangt sein
Die Stadt hat eine andere Erklärung, wie die Tiere in das Rohr unter der Rheinaue gekommen sein müssen: „Die gesetzte Blase wurde leider dreimal durch Unbekannte beschädigt und entfernt. Beim letzten Entfernen war der Wasserstand bereits so hoch, dass ein enormer Sog entstanden sein muss. Hätten sich zu diesem Zeitpunkt Nutrias in dem Kanalsystem befunden, hätten diese in den Rhein oder in den Bereich zwischen Stufe und Gitter geschwemmt werden müssen. Die Stadt geht deswegen davon aus, dass die Tiere erst danach in den Kanal gelaufen sind“, erklärt die Sprecherin. Wie genau das möglich gewesen sein soll, erläutert sie nicht genauer.
Dass überhaupt auffiel, dass sechs Nutrias eingesperrt worden waren, ist den freiwilligen Helferinnen und Helfern zu verdanken, die die Tiere während der Sanierungsarbeiten regelmäßig gefüttert haben - trotz des ausdrücklichen Fütterungsverbots, auf das die Stadt Bonn im Rahmen unserer Anfrage erneut hinweist. Wie im Facebook-Video zu sehen ist, haben sie nicht nur allen Nutrias einen Namen gegeben. Die Tiere sind ihnen gegenüber auch sehr zutraulich. „Ohne das Wissen dieser Leute hätte ich den Einsatz nicht machen können“, erklärt Böckling, der den Tiernotruf als private Ein-Mann-Initiative gegründet hat und mittlerweile deutschlandweit zu Tierrettungen gerufen wird.
Wie sauer es ihn macht, dass sein Eingreifen überhaupt nötig wurde, ist ihm im Telefonat mit unserer Redaktion anzumerken: Statt acht Stunden durch die Kanalisation zu kriechen, hätte die Stadt Bonn seiner Meinung nach auf das Angebot der Freiwilligen zurückkommen sollen. „Warum schicke ich denn Leute durch den Kanal, wenn Tiere jeden Abend aus der Röhre gelockt und gefüttert werden? Die Stadt hätte den Zugang direkt hinter den Nutrias verschließen können. Das wäre ein Einsatz von zwei Minuten gewesen.“
Stadt Bonn will künftig mit Nutria-Liebhabern kooperieren
Die Stadt Bonn will Rettungsaktionen wie diese in Zukunft gar nicht erst nötig werden lassen. „In den nächsten Sanierungsabschnitten möchte die Stadt gerne enger mit den Bürger*innen, welche sich für die Nutrias in der Rheinaue engagieren, zusammenarbeiten“, teilt die Sprecherin mit. Dazu bestehe bereits Kontakt mit zwei Freiwilligen. „Für das Einsetzen der Blase im nächsten Seebereich wurde mit ihnen ein Termin vereinbart, um gemeinsam sicherzustellen, dass sich keine Nutrias im Kanalsystem befinden. Wenn in den nächsten Seebereichen das Wasser abgelassen wird, plant die Stadt, die Abflussrohre so zu verschließen, dass die Nutrias erst gar nicht in den Kanal hinein gelangen können.“
Stefan Böckling überlegt dennoch, Anzeige zu erstatten. „Auch wenn Nutrias als invasive Art hierzulande nicht erwünscht sind, so gilt für sie dasselbe Tierschutzgesetz wie für alle anderen Wirbeltiere auch“, sagt er. „Und dieses verbietet es, ihnen längeranhaltende, vermeidbare Schmerzen und Leiden zuzufügen.“
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