Wolfgang Picken und Dietmar Pistorius „Wir waren aber alle mit der Situation überfordert“

Interview | Bonn · Stadtdechant Wolfgang Picken und Bonns Superintendent Dietmar Pistorius äußern sich zur Kritik an der Kirche während der Corona-Krise. Mit dem GA sprechen sie auch über die Zukunft der Glaubensgemeinschaften.

 Kirchenvertreter in Bonn: Stadtdechant Wolfgang Picken (links) und Superintendent Dietmar Pistorius.

Kirchenvertreter in Bonn: Stadtdechant Wolfgang Picken (links) und Superintendent Dietmar Pistorius.

Foto: Benjamin Westhoff

Wochenlang gab es wegen Corona keine Gottesdienste. Seelsorge gibt es meistens nur am Telefon: Viele Gläubige fühlen sich von der Kirche verlassen. Mit Stadtdechant Wolfgang Picken und Superintendent Dietmar Pistorius sprachen Lisa Inhoffen und Phillip Königs.

Pfarrer-Dasein in Corona-Zeiten: Wie geht es Ihnen?

Dietmar Pistorius: Meiner Familie und mir geht es gut. Wir sind alle gesund. Aber ich habe in meinem Umfeld Menschen mit einem schweren Krankheitsverlauf erlebt. Das hat mich selber auch in meinem Handeln geprägt. Wir dürfen das Corona-Virus nicht unterschätzen.

Wolfgang Picken: Mich hat diese Corona-Krise ziemlich erschöpft. Der Verlust von festen Strukturen und Abläufen, kaum etwas war noch so, wie man es bisher gewohnt war, und die Notwendigkeit, sich jeden Tag neu zu organisieren, macht auf Dauer müde.

Kritiker sagen, Kirche sei in der Corona-Krise zu still geworden. Ärgert Sie das?

 Pistorius: Ich sehe das nicht so. Kirche hat sich sehr früh zur Krise öffentlich geäußert. Und das immer wieder. Ich erinnere an das gemeinsame Wort der Kirchen bereits Mitte März. Alle haben deutlich die Solidarität der Menschen in der Krise eingefordert. Und dass wir nicht das globale Geschehen durch Corona aus dem Blick verlieren dürfen. Es gab auch früh theologische Überlegungen, wie wir diese Krise einsortieren. Für die evangelische Kirche kann ich sagen, es haben sich alle leitenden Geistlichen der Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geäußert. Und Herr Picken und ich haben auch sehr öffentlich in dieser Zeit agiert, denken Sie an die ökumenischen Gottesdienste im Internet, das gemeinsame Karfreitagsgebet in Bonn.

Woher kommt dann die Kritik?

Pistorius: Natürlich müssen wir uns fragen lassen, ob wir immer die richtigen Fragen in der Situation gestellt haben. Etwa die Frage, wie kann der Schutz des Lebens vereinbart werden mit der Würde des Menschen. Das haben wir im Pfarrkonvent sehr kontrovers diskutiert, aber eben nicht öffentlich. Das hat Wolfgang Schäuble getan. Wir als Kirche waren vielleicht nicht genügend Sand im Getriebe

Picken: Ich sehe das ein wenig anders. Richtig ist: Wir haben uns als Deutsche Kirche allgemein zu der Krise geäußert. Auch haben Kirchengemeinden an vielen Orten sehr fantasievoll auf die Krise reagiert. Es gibt aber auch das andere: Wir haben als Kirche kaum gewagt, Fragen zu stellen. Etwa die Frage nach der seelischen Verfassung der Menschen in der Krise. Die Frage, ob das, wofür wir stehen, in einer solchen Krise relevant ist. Die Frage, welche konkreten Einschnitte man in das Leben von Menschen vornehmen kann und welche Wirkung sie auf die Seele und das Sozialverhalten zeigen werden. Jeder von uns konnte verstehen, dass der Staat bei dem rasanten Infektionsgeschehen schnell und grobschnittartig Entscheidungen treffen musste. Das aber musste die Kirche nicht davon abhalten, sich einzumischen, damit an manchen Stellen frühzeitig nachjustiert wird.

Haben Sie ein Beispiel?

Picken: Ich möchte die Menschen mit psychischen Erkrankungen nennen. Viele von ihnen brauchen unbedingt feste Strukturen und Begleitung. Genau das aber fiel weg, über lange Zeit. Das führte in nicht wenigen Fällen zu einer Verschlechterung des Zustands und zu einer wachsenden Suizidneigung. Wir hätten dafür sorgen müssen, dass man mit Blick auf diese Personengruppe Anpassungen des Kontaktverbots vornimmt. So gab es viele Bereiche, in denen differenziertere Regelungen nötig gewesen wären. Versäumt haben wir zudem, vernehmbar davon zu reden, worin in dieser Krise die Kraft des Glaubens liegt. Der Lockdown fiel bezeichnenderweise in die Osterzeit, in der genau diese Frage im Mittelpunkt der christlichen Tradition steht. Der Krise und der Bedrohung der menschlichen Existenz steht die gläubige Hoffnung gegenüber, dass wir uns mit Gottes Hilfe aus einer Not aufrichten können und es ein Leben nach dem Tod gibt. Wir hätten diese Coronazeit besser nutzen können, den Menschen diese sinnstiftende und kraftgebende Antworten zu geben. Da waren wir zu leise.

Beide Kirchen verlieren massiv Mitglieder. Dazu kommt Corona, wo viele Menschen den Eindruck hatten oder noch haben, Kirche duckt sich weg.

Pistorius: Diese Kritik an der Kirche hat etwas Schizophrenes: Auf der einen Seite wird gesagt, Kirche hat sich zu wenig eingemischt, auf der anderen Seite wird gesagt, Kirche hat ohnehin keine Systemrelevanz mehr. Das passt eigentlich schlecht zusammen. Ich bin an der Stelle sehr an einer Differenzierung interessiert: Das eine ist die Frage, was haben wir in der Krise getan und gesagt. Da hätten wir in der Tat gegenüber manchen Entscheidungen kritischer sein müssen. Aber das andere ist, dass Kirche für mich nicht nur das ist, was zum Beispiel der Vorsitzende des Rates der EKD vorgibt. Kirche findet vor allem an der Basis statt, im Gespräch der Gemeinden, im Kontakt zwischen den Gemeindegliedern und den Pfarrerinnen und Pfarrern. Ich glaube, dass da, wo diese Kontakte stattgefunden haben, die Menschen sehr wohl die Relevanz des Glaubens in dieser Krise erfahren haben. Seelsorge war und ist da.

Picken: Die große Problematik für die Kirche ist, dass sie weitgehend eine Geh-hin-Kirche ist. Jetzt plötzlich waren wir damit konfrontiert, dass niemand mehr in die Kirche kommen konnte. Stattdessen mussten wir jetzt auf die Menschen zugehen. Diese Umstellung war nicht einfach. Natürlich haben dennoch viele Gemeinden intensiv versucht, die Menschen zu erreichen. Aber das war ein Lernprozess in der Krise und hat Zeit gebraucht. Das hat manche möglicherweise enttäuscht. Wir waren aber alle, und das nicht nur wir als Kirche, mit der Situation überfordert.

Wo hätte Kirche sich denn stärker einbringen können?

Picken: Als beispielsweise von der Politik systemrelevante Berufe festgelegt worden sind und entschieden wurde, dass deren Kinder in die Notbetreuung aufgenommen werden. Da hätten wir klarstellen müssen, dass auch das Wohl des Kindes ein wichtiges Kriterium für die Notbetreuung sein muss. Was ist mit Kindern, die einen Förderbedarf haben? Was ist mit Kindern aus sozialschwachen Familien, deren Eltern möglicherweise nicht in systemrelevanten Berufen arbeiten und ihre Kinder deshalb monatelang zu Hause betreuen mussten? Die durften nicht in den Kindertagesstätten betreut werden. Hier und an anderen Stellen hätten die Kirchen mehr als Anwalt der Benachteiligten und Hilfsbedürftigen auftreten und auf die Schwächen des Systems in der Krise hinweisen müssen. Das haben wir leider viel zu spät getan. Dabei wissen wir doch, dass in Krisen die Schwachen die Gefährdetsten sind.

Pistorius: Ich möchte aber erwähnen, dass unsere Wohlfahrtsverbände, Caritas und Diakonie, dafür eingetreten sind, dass in Bonn ein Rettungsschirm für Kinder aus sozialschwachen Familien aufgelegt wird. Da haben wir doch genau hingeguckt und dafür gesorgt, dass soziale Maßnahmen ergriffen wurden, um diese Menschen in der Krise nicht allein zu lassen.

 „Die große Problematik für die Kirche ist, dass sie weitgehend eine Geh-hin-Kirche ist. Jetzt plötzlich waren wir damit konfrontiert, dass niemand mehr in die Kirche kommen konnte“, so Wolfgang Picken.

„Die große Problematik für die Kirche ist, dass sie weitgehend eine Geh-hin-Kirche ist. Jetzt plötzlich waren wir damit konfrontiert, dass niemand mehr in die Kirche kommen konnte“, so Wolfgang Picken.

Foto: Benjamin Westhoff

Ein anderes Beispiel, über das in den Medien berichtet wurde, sind die Menschen, die im Sterben allein gelassen wurden, die Alten und die Kranken. Wo war die Kirche da?

Picken: Im Bereich der Krankenhausseelsorge haben wir im Zusammenspiel mit den Krankenhäusern eigentlich schnell individuelle Lösungen gefunden. Kürzlich erst ergab eine Umfrage unter allen Krankenhausseelsorgern übereinstimmend, dass nach den ersten zwei, drei Wochen des harten Lockdowns die Besuche von Seelsorgern wieder weitgehend möglich waren. Anders hat sich die Situation in den Altenheimen dargestellt. Da haben die Seelsorger wie die Angehörigen draußen gestanden und kamen nicht rein. Ich meine, wir hätten als Kirche den Staat hier sofort mahnen müssen, dass das kein würdiger Zustand ist und so schnell wie möglich abgestellt werden muss. Man hätte die Hygienemaßnahmen anpassen können, wie es auch bei anderen Infektionserkrankungen geschieht. Wie oft bin ich schon bei Patienten auf Isolierstationen gewesen! Es gibt immer Wege und Möglichkeiten, wenn wir es nur genügend wertschätzen, dass Kranke, Alte und Sterbende nicht ohne Begleitung bleiben.

Ärzte kümmern sich um die organische Gesundheit, Pfarrer um die Seele. Die war dann in der Krise nicht relevant, oder?

Picken: Ja. So war es an vielen Stellen. Wir durften nicht zu den Alten und Sterbenden ins Pflegeheim. Wir mussten die Gottesdienste ohne Ausnahme einstellen. Alle seelischen Bedürfnisse mussten zurückstehen, damit es zu keinen Kontakten kommen konnte. Zeitgleich aber durfte man selbstverständlich zur Befriedigung materieller Bedürfnisse für jede Kleinigkeit in den Supermarkt oder den Baumarkt. Das finde ich fragwürdig. Natürlich haben wir die Verantwortung, dass niemand erkrankt und am Ende stirbt. Aber das muss nicht bedeuten, dass alles, was für nicht wenige seelisch relevant ist, wegfallen kann und darf. Genau das aber ist geschehen.

Pistorius: Die Krankenhausseelsorge hat mich auch sehr beschäftigt. Ich habe aber sehr unterschiedliches Vorgehen in den Häusern festgestellt. In einigen Häusern war es kein Problem, dass Krankenhausseelsorge weiterhin stattfinden konnte. Es gab aber auch Häuser, die waren restriktiver, da mussten wir sehr darum kämpfen, dass wir als Seelsorger Zutritt erhielten. Wichtig ist mir auch die Situation der Sterbenden in den Krankenhäusern gewesen. Vorbildlich war die Uniklinik, wo die Palliativstation für uns stets offen war. Nichtsdestotrotz ist es so, dass in der Corona-Krise leider Menschen ohne seelischen Beistand gestorben sind. Die Maßnahmen in den Altenheimen waren für mich aber anfangs plausibel. Denken Sie an die vielen Heime, wo es große Corona-Ausbrüche mit vielen Toten gab, wie zum Beispiel in Sankt Augustin. Dass wir da als Kirchen nicht an vorderster Stelle vorneweg gegangen sind und gesagt haben, wir sollten die Kontaktbeschränkungen in Altenheimen nicht so streng handhaben, das mag man uns nachsehen. Aber ich sehe auch, wir als Kirche hätten gerade bei diesem Thema stärker einfordern müssen, kreativere Lösungen zu finden.

Picken: Seele und Körper müssen im Gleichgewicht sein. Das wird in der heutigen Gesellschaft leider oft vernachlässigt. Da müssen wir Kirchen gerade in einer solchen Krise dringend gegensteuern. Deshalb habe ich zum Beispiel zu Beginn des Lockdowns, als wir keine öffentlichen Gottesdienste mehr feiern durften, dennoch einzeln die Kommunion ausgeteilt. So wie der Körper Nahrung braucht und die Supermärkte deshalb geöffnet waren, so braucht auch die Seele ihre Nahrung, zumal in schweren Zeiten. Also gab es die Kommunion, natürlich unter strenger Einhaltung der Hygienevorschriften.

Pistorius: Auch bei uns wird in immer mehr Gemeinden wieder das Abendmahl gefeiert. Wir raten aber eindringlich zur Nutzung von Einzelkelchen und zum Verzicht auf den Gemeinschaftskelch. Ich denke, das ist die einzige Möglichkeit, das Abendmahl verantwortlich feiern zu können

Wagen Sie einen Ausblick. Wie geht es mit der Kirche weiter?

Picken: Wir feiern ja wieder überall öffentliche Gottesdienste mit der erlaubten Anzahl von Menschen. Dabei sind alle Plätze voll besetzt. Das gilt auch für die zusätzlichen Gottesdienste, die wir mancherorts deshalb anbieten. Das liturgische Leben ist wieder angelaufen.

Pistorius: Wir machen dieselbe Erfahrung. Es hat gibt offensichtlich ein unwahrscheinlich großes Bedürfnis trotz aller digitalen Gottesdienst- und Andachtsangebote wieder leiblich und räumlich zusammenkommen und Gottesdienste feiern zu können.

Was passiert, wenn es eine neue Corona-Welle gibt?

Pistorius: Ich denke, wir werden die Gottesdienste weiter feiern können. Wir haben ja jetzt einen reichen Schatz an Erfahrungen. Wir wissen jetzt, wie es geht. Wir haben ein Hygienekonzept entwickelt, das aus meiner Sicht auch dann tragfähig, wenn die Infektionszahlen wieder steigen sollten. Wir haben Kirchen wie die Kreuzkirche, wo man mit einer gewissen Zahl von Menschen mit großem Abstand zusammenkommen kann. Da ist sicher mehr Platz als in so manchem Supermarkt.

Picken: Ich glaube auch, dass wir, sofern es erlaubt ist, auch bei einer zweiten Welle weiter Gottesdienste feiern werden. Aber man muss auch ehrlicherweise sagen, dass es sehr gewöhnungsbedürftig ist, unter den geltenden Auflagen Gottesdienst zu feiern. Wenn die Gläubigen mit Maske und in kleiner Zahl kommen und wir nicht singen dürfen, ist es nicht leicht, eine gute Atmosphäre aufkommen zu lassen. Besonders gute Erfahrungen machen wir gegenwärtig mit Gottesdiensten, die draußen stattfinden. Nebenbei haben Outdoor-Gottesdienste eine sympathische Botschaft: Kirche bewegt sich aus ihren Mauern heraus und geht auf die Menschen zu.

Was planen sie zu Weihnachten?

Picken: Sollten an Weihnachten keine Präsenzgottesdienste stattfinden dürfen, wäre das für alle Gläubigen schlimm. Wir müssten überlegen, was dann alternativ möglich wäre. Die Erfahrung der letzten Monate werden uns helfen, Lösungen zu finden, die über die bewährten digitalen Angeboten hinausgehen. Etwa offene Kirchen, die weihnachtlich geschmückt sind und die man über den Tag einzeln betreten darf. Aber ich hoffe, dass wir das nicht erleben werden. Wichtiger scheint mir gegenwärtig, dass wir die existenzielle Krise nutzen, um über Veränderungen unserer Lebenskultur nachzudenken. Dazu gehört der Diskurs über Klima- und Umweltschutz, der Diskurs über die Ursachen von Krieg und Flucht.

Pistorius: Auch mir brennen die Fragen rund um unsere Existenz, um unser Leben, unsere Umwelt und das Miteinander mehr auf den Nägeln als die Frage, wie wir in der Corona-Krise Weihnachtsgottesdienste feiern werden. Zumal wir das jetzt auch noch gar nicht planen können. Wichtig ist es für mich deutlich zu machen: Kirche ist nicht systemrelevant. Kirche ist existenzrelevant für die Menschen. Diese Erfahrung müssen Menschen mit Kirche machen können. Daran liegt mir viel mehr, als zu diskutieren, ob wir systemrelevant sind oder nicht.

Picken: Wir sollten die Krise vor allem dazu nutzen, uns als Kirche mehr sichtbar zu machen. Wir sind dazu aufgerufen, angesichts vieler Krisen grundsätzliche Fragen zu stellen und mehr denn je gesellschaftliche Prozesse anzustoßen. Ich bin guter Hoffnung, dass das viele Menschen gerne aufnehmen werden.

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