Kunstwerk am Haus der Geschichte Was steckt hinter dem „Jahrhundertschritt“ in Bonn?

Bonn · Was steckt hinter Kunstwerken im öffentlichen Raum? Wolfgang Mattheuers „Jahrhundertschritt“ vor dem Bonner Haus der Geschichte zeigt ein zerrissenes Volk zwischen zwei Systemen und Ideologien

 Wolfgang Mattheuers „Jahrhundertschritt“ (1984/ Guss von 1990) vor dem Bonner Haus der Geschichte.

Wolfgang Mattheuers „Jahrhundertschritt“ (1984/ Guss von 1990) vor dem Bonner Haus der Geschichte.

Foto: Thomas Kliemann

„Diese Figur ist nicht eindeutig, wie unser Jahrhundert nicht eindeutig war. Es ist zerrissen.“ Genauso wie der Bildhauer Wolfgang Mattheuer ein Jahr vor seinem Tod auf das zerrissene 20. Jahrhundert zurückblickt, erscheint auch seine Figur „Jahrhundertschritt“, das Hauptwerk des Künstlers (1927-2004), von dem ein Abguss vor dem Bonner Haus der Geschichte steht. Weitere findet man vor dem Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig und im Innenhof des Museums Barberini in Potsdam. In einer kleinen Serie über Kunst im öffentlichen Raum in Bonn stellen wir Mattheuers „Jahrhundertschritt“ vor.

Mit einem weit nach vorne ausschreitenden nackten weißen Bein drängt die Figur vorwärts, das andere Bein steckt in einem schweren Soldatenstiefel, bremst die Figur förmlich ab. Das Spiel divergierender Kräfte wiederholt sich bei den Armen – die Rechte reckt sich zum Hitlergruß, die Linke ballt die Kommunistenfaust.

Der Kopf ist fast in einer Art Uniformjacke verschwunden, die vorne aussieht, als sei sie gesprengt. Alle vier Extremitäten streben auseinander, der Kopf hat kapituliert, der „Jahrhundertschritt“ erscheint als hohle Geste des ideologischen Fortschritts. Mattheuers Bilanz des zerrissenen Jahrhunderts: ein Volk hin- und hergerissen zwischen zwei Diktaturen.

Was sich auch in der Biografie Mattheuers spiegelt: Als 17-Jähriger muss er an die Front, gerät in sowjetische Kriegsgefangenschaft, er macht Karriere im SED-Staat, stellt bei der documenta und Biennale in Venedig aus, reibt sich aber auch an der DDR-Führung, wird seit den 1960er Jahren von der Stasi bespitzelt, tritt ein Jahr vor der Wende aus der SED aus, beteiligt sich an den Leipziger Montagsdemonstrationen.

Das kritische Werk „Jahrhundertschritt“ wurde 1985 bei der Erstpräsentation in Leipzig kontrovers aufgenommen. „Da hat er uns wieder mal einen ordentlichen Sprengsatz untergeschoben!“, knurrte ein Funktionär. Mattheuers „Jahrhundertschritt“ wurde offiziell in die Richtung interpretiert, dass im SED-Staat die Aufarbeitung des Faschismus gelungen sei, während man im Westen damit „mit bestimmten Erscheinungen seiner Macht“ liebäugele, wie der Soziologe Bernd Lindner in einer Analyse schreibt. Mattheuers eigene Lesart, die er im Entstehungsjahr 1984 notierte, wurde erst nach der Wende publik. Da fragte der kritische Künstler auch nach den Opfern des Stalinismus und dem damals herrschenden Personenkult.

Darstellung zweier Gesellschaftssysteme

Als das Werk 1987/88 bei der zehnten und letzten Kunstausstellung der DDR in Dresden gezeigt wurde, wurde es vom Publikum zum wichtigsten Werk der DDR-Ausstellung gekürt. Manche sahen das Werk als Inbegriff und dialektische Darstellung der beiden Gesellschaftssysteme und Ideologien.

Es gab aber auch folgenden Kommentar, den Lindner zitiert: „Die Frage ist doch: Inwieweit kann der humane Anspruch der Arbeiterklasse in eine kopflose, ziellose Bewegung umkippen, die um des Fortschrittswillens ziel- und ideallos geworden ist, die als Ideologie verkrustet und erstarrt ist, blind wurde. Neues Denken ist nötig.“

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