Impfpflicht in Deutschland Bonner Arzt warnt vor Ansteckungsgefahr bei Masern

Bonn · Um die Masern in Deutschland auszurotten, ist die Impfrate zu gering. Der Bonner Kinderarzt Axel Gerschlauer hält eine Pflicht für sinnvoll. Denn Impfgegner seien oft beratungsresistent und gefährden damit andere Kinder, sagt der Mediziner.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bereitet ein Gesetz vor, das eine Masernimpfpflicht vorsieht. Ziel ist die Ausrottung der Krankheit, die tödlich verlaufen kann. Über seine Erfahrungen mit Impfgegnern, den Gesetzentwurf und Risiken der Impfung sprach Axel Gerschlauer, Vorsitzender des Vereins der Kinder- und Jugendärzte, mit Lisa Inhoffen und Philipp Königs.

Herr Gerschlauer, sind Sie selbst geimpft?

Axel Gerschlauer: Klar, ich bin durchgeimpft, meine Familie auch.

Auch gegen die Masern?

Gerschlauer: Auch gegen die Masern. Allerdings bin ich Jahrgang 1970. Damals war die Masernimpfung zwar schon teilweise empfohlen, aber nur die einmalige im Kindesalter. Mit 17 Jahren habe ich dann die Masern tatsächlich bekommen. Bei mir ist nichts passiert, sonst säße ich heute vielleicht nicht hier. Wer einmal die Masern bekommt, ist anschließend immun.

Was ist so schlimm an diesen Kinderkrankheiten wie den Masern?

Gerschlauer: Beim Stichwort Kinderkrankheiten sprechen wir schon über einen wichtigen Punkt, über den sich viele Ärzte heute ärgern. Kinderkrankheiten, das klingt nämlich ziemlich verharmlosend. Das Wort „nur“ denkt man sich praktisch hinzu. Das trifft es aber nicht. Damit wird man diesen Krankheiten nicht gerecht, weil sie ganz furchtbar verlaufen können.

Was kann passieren? Und in wie vielen Fällen treten diese furchtbaren Verläufe auf?

Gerschlauer: Bei Erkrankten liegt die Wahrscheinlichkeit bei 1 zu 1000 für eine Enzephalitis, also eine Gehirnhautentzündung, vor der wir so viel Angst haben.

Wie äußert sie sich?

Gerschlauer: Im schlechtesten Fall können Kinder an einer Gehirnhautentzündung sterben oder die Betroffenen tragen schwere Behinderungen davon.

Wie kann man Masern erkennen?

Gerschlauer: Es sind Symptome wie Fieber, Heiserkeit, Husten. Also Symptome, bei denen man nicht sofort an die Masern denkt. Das ist das Hinterhältige. Es können die Masern sein, die unglaublich ansteckend sind. Danach kommt erst der verdächtigere Hautausschlag. Die Wahrscheinlichkeit, andere in dieser Zeit angesteckt zu haben, liegt bei fast hundert Prozent. Das bedeutet, wenn ein Infizierter mit hundert Nichtinfizierten beispielsweise im Wartezimmer zusammentrifft, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass anschließend alle die Masern per klassischer Tröpfcheninfektion bekommen.

Gesundheitsminister Jens Spahn will die Masernimpfung verpflichtend vorschreiben. Ist das der richtige Weg?

Gerschlauer: Sicher ist das keine brillante Lösung. Wenn wir aber das Ziel haben, die zu schützen, die gefährdet sind, habe ich keine bessere Idee. Was wir bisher getan haben, um die Masern mit guter Aufklärung einzudämmen, hat schlichtweg nicht zu einer signifikanten Verbesserung der Rate geführt. Spahn ist bisher eher durch Populismus als durch Sachkenntnis aufgefallen, aber sein Vorstoß weist den richtigen Weg. Als ich vor einigen Jahren Spahns Vorgänger Gröhe auf eine Masernimpfpflicht angesprochen habe, sagte er: Geht gar nicht. Juristisch sei das nicht möglich. Die Ärzte müssten mehr aufklären. Aber als Kinderarzt kann ich solche Argumente nicht mehr hören. Wir machen das die ganze Zeit bei jeder Vorsorge seit Jahren und kommen nicht vorwärts.

Was ist mit verstärkter Aufklärung in Kindergärten und Schulen?

Gerschlauer: In NRW gibt es schon die verpflichtende Impfberatung vor Eintritt in den Kindergarten. Allerdings müssen die Eltern nur nachweisen, dass sie beraten wurden und nicht, dass sie die Impfungen haben durchführen lassen. Das hat aber alles nichts gebracht. Die Impfpflicht erscheint mir deshalb als die beste von vielen schlechten Lösungen.

Aber wie soll eine solche Pflicht durchgesetzt werden? Wird das Kind an den Stuhl gefesselt und zwangsgeimpft, wenn die Eltern nicht zustimmen?

Gerschlauer: Im Gespräch sind Strafzahlungen. Aber die Frage ist berechtigt: Was tue ich, falls das Gesetz auch für Schulkinder gilt und die Eltern der Impfung trotzdem nicht zustimmen? Wer möchte Bilder sehen von Polizisten, die ein Kind festhalten, damit der Schularzt es impfen kann?

Könnte ein solches Gesetz nicht Eltern auf die Idee bringen, die verpflichtende Masernimpfung durchzuführen und auf die anderen, nur empfohlenen Impfungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) zu verzichten?

Gerschlauer: Die Gefahr, dass Eltern das missverstehen, ist sicher da. Es könnte neue Probleme generieren, wie es in anderen Ländern nach der Einführung der Impfpflicht passiert ist. Einen großen Teil der Ungeimpften machen übrigens auch Erwachsene aus, die vor 1970 beziehungsweise vor allem vor 1990 geboren sind. Die Stiko empfiehlt eine einmalige Impfung mit einem Masern-Mumps-Röteln-Impfstoff für alle nach 1970 geborenen Personen mit unklarem Impfstatus, ohne Impfung oder nur mit einer Impfung in der Kindheit. Das ist unproblematisch, auch wenn man schon geimpft war.

Ziel ist es also, die Rate für die zweite Impfung bei Kindern und Erwachsenen zu erhöhen?

Gerschlauer: Die Impfquote der ersten Impfung liegt bei der Schuleingangsuntersuchung bei 97 Prozent, bei der zweiten bei unter 93 Prozent. Wir bräuchten mindestens 95 Prozent Abdeckung, um die Masern auszurotten, also um das erklärte Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu erreichen. Es gibt europäische Länder wie beispielsweise Schweden, die diese Impfquote bereits erfolgreich erreicht haben.

Das Thema scheint mit den ersten Flüchtlingswellen wieder hochgekocht zu sein. Oder trügt dieser Eindruck?

Gerschlauer: Die WHO redet seit Jahren davon, dass Deutschland seine Ziele nicht erreicht, auch schon in ihren Berichten aus dem Jahr 2010. Überspitzt gesagt: Man braucht keine Flüchtlinge, die Masern einschleppen, solange der Akademiker XY seine Kinder nicht impft.

Ist Impfen verknüpft mit dem Bildungsniveau?

Gerschlauer: Ich hatte kürzlich an einem Tag drei Kinder, die nicht gegen die Masern geimpft waren. Sie spiegelten sehr schön die drei Gruppen der Eltern wider, mit denen es Kinderärzte zu tun haben. Gruppe eins: Die Eltern, die es vergessen haben, aber dann am gleichen Tag impfen lassen. Gruppe zwei: Die Eltern haben die erste Impfung gemacht, aber das Gefühl, das Kind hätte eine Auffälligkeit entwickelt, beispielsweise eine Hautveränderung. Die machen sich ernsthaft Sorgen vor den Nebenwirkungen. Diesen Eltern kann man in der Regel mit Statistiken und Aufklärung erreichen.

Und die dritte Gruppe?

Gerschlauer: Das Kind ist drei Jahre alt und hat keine einzige Impfung. Das sind oft sogenannte Verschwörungstheoretiker. Sie argumentieren damit, dass die Pharmaindustrie mit den Impfungen nur Geld machen will und die Kinderärzte dem brav folgen. An der Stelle der Hinweis: Für eine Impfung bekommt ein Kinderarzt 10,06 Euro brutto. Das Bestechungspotenzial erscheint mir recht gering. Diese Gruppe kann man nach meiner Erfahrung nicht überzeugen. Und, um Ihre Frage zu beantworten: Impfgegner sind ganz sicher nicht die Ungebildetsten.

Welche Argumente gegen eine Impfung hören Sie im Alltag noch?

Gerschlauer: Impfungen machen krank, ist ein weiteres Argument. Da ist mehr Angst vor dem Impfstoff vorhanden als vor der Krankheit. Unsere Gesellschaft verliert, so mein Eindruck, den Respekt vor Krankheiten, weil wir sie so selten zu sehen bekommen. Was aber nicht heißt, dass sie nicht da sind.

Wann ist bei Ihnen die Grenze erreicht und Sie bitten Eltern, zu einem anderen Kinderarzt zu gehen?

Gerschlauer: Wenn eine Zusammenarbeit keinen Sinn mehr ergibt. Ich muss meine anderen Patienten schützen, deren Ansteckungsrisiko hoch ist, wenn Nichtgeimpfte in meine Praxis kommen. Diese Patienten lassen wir zwar in der Regel nicht ins Wartezimmer, aber es kann natürlich mal einer durchrutschen. Die Gefährdetsten müssen geschützt werden, seien es Säuglinge oder Kinder, die einen Immundefekt haben. Ich versuche, meine Patienten von den Impfungen zu überzeugen, die aus meiner Sicht sinnvoll sind.

Wie groß ist das Risiko erheblicher Behinderungen durch Impfungen?

Gerschlauer: Bei 45 Millionen Impfdosen im Jahr in Deutschland und im Mittel 34 anerkannten Impfschäden liegen wir bei einer Rate von 1 zu 1,3 Millionen, das sind 0,000076 Prozent. Und zu großen Teilen traten diese Nebenwirkungen bei älteren Impfstoffen auf, die teilweise nicht mehr verwendet werden.

Hat die Bockigkeit der Impfgegner zugenommen?

Gerschlauer: Schwer zu sagen. Ich selbst bin mit den Jahren zickiger geworden. Insofern stellt sich natürlich die Frage, wie viele Impfgegner überhaupt noch den Weg zu mir in die Praxis finden. Messungen dazu gibt es nicht. Allerdings hat die WHO die ,Impfskepsis' in diesem Jahr in die Top Ten der Bedrohungen der Weltgesundheit aufgenommen. Es hat sich jedenfalls unterm Strich bei der Impfrate nichts verbessert. Natürlich ist eine Impfpflicht ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Eltern. Aber es gilt hier der alte Rosa-Luxemburg-Spruch von der Freiheit der Andersdenkenden. Man tut es eben auch, weil man durch die Impfung des eigenen Kindes andere Kinder vor Ansteckung schützt.

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