GA-Serie „Macht und Mehrheit“ Bundestagspräsident Lammert kritisiert Verrohung im Netz

Bonn · Zum Auftakt für die GA-Serie „Macht und Mehrheit“ antwortet Bundestagspräsident Norbert Lammert. Müssen Politiker mehr erklären, was sie tun und warum sie es tun?

Verdirbt Politik den Charakter?

Professor Norbert Lammert: Nein, aber umgekehrt: Ein verdorbener Charakter verdirbt die Politik!

Warum ist das Ansehen von Politikern in vielen Umfragen so schlecht?

Lammert: Das hat sicher mit enttäuschten Erwartungen zu tun, die – gerade in Wahlkampfzeiten – auch von Politikern geschürt werden. Deshalb empfehle ich, etwas bescheidener in den Ankündigungen zu werden, dafür aber anspruchsvoller in den Zielen, mutiger in den Entscheidungen. Denn was die Politik an Glaubwürdigkeit verliert, durch Wankelmütigkeit, durch Wortbruch, durch Gleichgültigkeit oder durch Beliebigkeit, das kann sie an Popularität weder gewinnen noch ausgleichen. Es gibt aber auch überzogene, sich oft wechselseitig ausschließende Erwartungen, etwa, dass in der Politik einerseits Entscheidungskraft, Kompromissfähigkeit erwartet wird, andererseits Einigungen mit dem Vorwurf der Profilschwäche quittiert werden. Das ist ein nicht aufzulösendes Dilemma für alle, die sich politisch engagieren.

Ist Politik das schmutzige Geschäft, für das es viele offenbar halten?

Lammert: Nur dann, wenn man Kompromisse als „faul“ empfindet. Kompromisse stellen zwar niemanden hundertprozentig zufrieden, aber die Kompromissbereitschaft, Konsensfähigkeit ist eine demokratische Tugend, vielleicht sogar die wichtigste.

Haben Politiker genügend Bodenhaftung oder agieren sie weit weg vom Volk?

Lammert: Ich kenne niemanden unter den Abgeordneten, der nicht im beständigen Austausch mit den Bürgerinnen, Bürgern seines Wahlkreises stände. Welche andere Berufsgruppe ist sicher „näher am Volk“? Politiker müssen sich dennoch immer überlegen, wie sie einen neuen Zugang auch zu denen finden, die sich nicht angemessen vertreten fühlen.

Sind sich Bürger und Politiker fremder geworden in den zurückliegenden Jahren? Wenn Sie das auch so sehen – woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Lammert: Wir haben es in der globalisierten Welt mit Herausforderungen zu tun, deren Komplexität es erkennbar schwerer machen, politisches Handeln nachvollziehbar zu vermitteln. Ich beobachte den von Ihnen thematisierten Vertrauensverlust im Übrigen vor allem gegenüber Gruppen, Institutionen –, das übrigens nicht nur in der Politik. Während man die Politiker, die Banker, die Kirche oder auch die Medien ablehnt, heißt es über den Wahlkreisabgeordneten, persönlichen Bankberater, Gemeindepfarrer, Lokalreporter viel häufiger: „Ach, den kenn ich, der ist in Ordnung, der macht einen guten Job.“

Müssen Politiker also mehr erklären, was sie tun, warum sie es tun?

Lammert: Ganz sicher, auch wenn dies in der schnelllebigen Kommunikationswelt keine leichte Aufgabe ist. Deutlich muss vor allem werden, wieso vermeintliche Patentlösungen, wie sie Populisten versprechen, nicht funktionieren können, worin der Vorteil eines zwar mühsamen, aber in einer Demokratie unerlässlichen Prozesses besteht, aus der Fülle der jeweils einzelnen, sich teilweise wechselseitig ausschließenden Interessen eine mehrheitsfähige, wenn möglich konsensfähige Lösung zu entwickeln.

Die Entfremdung zwischen Wählern und Politikern steigert sich bis zu Misstrauen, ja Hass: Woher kommt diese Entwicklung?

Lammert: Tatsächlich haben wir es mit einer Verrohung nicht nur, aber vor allem in den sogenannten sozialen Medien zu tun, wo die Absender von Hass-Mails aus einer feigen Anonymität heraus agieren können. Auch die, die sich zu ihren Ausfällen mit vollem Namen bekennen, konnten sich zu lange ermutigt fühlen, weil ihr Handeln folgenlos blieb. Dem müssen wir konsequent, auch strafrechtlich, Einhalt gebieten. Wir alle sind gefragt, denen nicht mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu schenken, nur weil sie am lautesten schreien.

Welchen Vorteil haben Profi-Politiker, welche Nachteile sehen Sie?

Lammert: Die langjährige Berufserfahrung eines Anwalts, Arztes oder eines Polizisten gilt gewöhnlich als Ausweis von Kompetenz. Für den Politiker gilt das genauso; ich kann jedenfalls keine prinzipiellen Nachteile erkennen – bis auf die Betriebsblindheit, die ein Risiko jeder professionellen Tätigkeit ist.

Brauchen Politiker berufliche Erfahrungen außerhalb der Politik?

Lammert: Unbedingt. Schaden tun sie nachweislich nicht und ebenso wenig wie beruflicher Erfolg außerhalb der Politik bereits den versierten Politiker garantiert.

Was sollte man im Leben lernen oder schon gelernt haben, um Politiker zu werden?

Lammert: Zuzuhören. Und, um nicht zu früh die Waffen zu strecken, die Einsicht Max Webers: Politik bedeutet das starke langsame Bohren von harten Brettern und dafür braucht es Augenmaß und es darf nicht an Leidenschaft fehlen.

Der Ton in der politischen Auseinandersetzung ist rauer geworden. Gilt das nur für das Internet oder ist das ein allgemeiner Trend?

Lammert: Für die parlamentarische Auseinandersetzung teile ich Ihre Wahrnehmung ausdrücklich nicht. Während in Wahlkampfzeiten Emotionen hochkochen, haben die Debatten über die Euro-Rettung, die Griechenland-Hilfen oder die Flüchtlingspolitik die grundsätzliche Bereitschaft und Fähigkeit der im Bundestag vertretenen Parteien zur nüchternen Sacharbeit gezeigt – auch gegen die Verlockung, die Erwartungen einer kritischen Öffentlichkeit zu bedienen und sich auf Kosten des politischen Widersachers zu profilieren. Das ist eine riesige Errungenschaft – mit einem Haken natürlich: Die beachtliche Konsensfähigkeit unseres politischen Systems hat fast unvermeidlich die Nebenwirkung, dass sich Minderheiten nicht ausreichend vertreten fühlen und sich dann lautstark außerhalb des Parlaments bemerkbar machen.

Fehlt es zu vielen Menschen in Deutschland an politischer Bildung?

Lammert: Es gibt offenkundig zumindest in einigen Teilen der Gesellschaft ein prekäres Missverständnis über die Grundprinzipien der Demokratie: ein Misstrauen gegenüber politischem Streit, den Verlust an Konsensfähigkeit und damit zusammenhängend einen Widerwillen gegen Kompromisse. Das halte ich für ebenso bedenklich wie die befremdliche Selbstgewissheit, mit der manche Bürger von der eigenen Haltung auf die des Volkes schließen und sich dann regelmäßig wundern, warum die Politik nicht einfach umsetzt, was vermeintlich alle wollen.

Wie erklären Sie sich den Trend zu Verschwörungstheorien?

Lammert: Das hat mit der Informations- und Desinformationsflut im digitalen Zeitalter zu tun, etwa den bemerkenswerten Beharrungskräften, mit denen im Netz bewusst verkürzte oder gefälschte Zitate von Politikern kursieren – vor allem auch krude Gerüchte, die sich dann bisweilen zu bizarren Verschwörungstheorien auswachsen. Das ist weit weniger witzig, als sich manche Geschichte liest. Denn darin spiegelt sich immer häufiger demonstrativ ein Grundmisstrauen in den Staat und seine Institutionen.

Warum haben es neuerdings Fakten so schwer, ausreichend wahrgenommen zu werden? Oder ist das gar kein neues Phänomen?

Lammert: Auch das hat mit der zunehmenden Komplexität der Probleme zu tun, mit denen wir uns befassen, aber auch mit den Bedingungen, unter denen sich heute die öffentliche Meinung bildet. Gerade in den Neuen Medien gibt es die ausgeprägte Neigung, Fakten nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie eine vorgefasste Meinung infrage stellen. Das Internet bietet einen gigantischen Raum, um sich mit Gleichgesinnten zu umgeben. Oft leitet den Nutzer statt der Suche nach der diskursiven Debatte der Wunsch nach Bestärkung der eigenen Meinung, im schlechtesten Fall: des eigenen Ressentiments. So bilden sich Parallelwelten. Das sehe ich als sehr gefährlichen Trend. Wer an einer ernsthaften Meinungsbildung interessiert ist, sollte aus seriösen Informationsquellen schöpfen und sich mindestens auch auf Informationen professioneller Medien stützen, die komplexe Sachverhalte in der Regel sortiert und ausführlich aufbereitet haben.

Derzeit ist Politik auch für junge Menschen wieder interessant: Ist das ein Strohfeuer oder bleibt das so?

Lammert: Dass wir derzeit unbestreitbar aufregende Zeiten erleben, trägt zur allgemeinen Politisierung sicherlich bei. Ich hatte aber anders als Sie nie den Eindruck, Jugendliche in Deutschland seien unpolitischer als früher. Sie sind heute ähnlich viel oder wenig politisch interessiert wie frühere Generationen. Was sich allerdings geändert hat, ist die Bereitschaft, sich langfristig zu engagieren, zum Beispiel in den Jugendorganisationen von Parteien. Viele setzen sich eher zeitlich befristet für ein ganz konkretes Anliegen ein und machen bei politischen Kampagnen oder in Bürgerinitiativen mit. Solche projektbezogenen Aktionen können das Engagement in politischen Parteien aber keineswegs ersetzen.

Machen Parteien jungen Menschen die richtigen Angebote?

Lammert: Ein Patentrezept gibt es nicht. Ich sehe aber, dass sich Parteien ehrlich bemühen und etwas in Bewegung geraten ist, insbesondere bei den Kommunikationsmitteln. Im Übrigen kann man auch von politisch interessierten Jugendlichen erwarten, dass sie an die Parteien herantreten – etwa mit dem Willen, als verkrustet empfundene Strukturen aufzubrechen.

Würden Sie heute selbst noch einmal in die Politik gehen?

Lammert: Unbedingt! Ich bin mit Leib und Seele Parlamentarier gewesen.

Gesetzt den Fall, Sie wären noch einmal 25: Welches Thema würden sie dann gerne anpacken?

Lammert: Ich weiß es nicht. Und weil ich eben nicht mehr 25 Jahre alt bin, freue ich mich auf das Engagement einer nachwachsenden Generation, die für ihre Anliegen Verantwortung übernimmt.

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