„Schlechte Noten fallen nicht vom Himmel“ Das sagen Schulpsychologen zum Zeugnistelefon in Bonn

Bonn · Schlechte Noten auf dem Zeugnis sind in der Regel kein Beweis dafür, dass Kinder und Jugendliche faul waren. Meistens stecken vielschichtige Gründe dahinter. Die Schulpsychologen Ester Overheid und Johannes Bendszus raten frühzeitig Lösungen zu suchen.

 Die Mitarbeit im Unterricht ist nur ein Aspekt, nach dem die Schüler bewertet und benotet werden.

Die Mitarbeit im Unterricht ist nur ein Aspekt, nach dem die Schüler bewertet und benotet werden.

Foto: dpa

Sie bieten Ihre Beratung bereits seit vielen Jahren an. Was hat sich in der schulpsychologischen Arbeit geändert?

Johannes Bendszus: Früher war das Zeugnistelefon eher ein Krisentelefon am Tag der Zeugnisvergabe. Das ist heute nicht mehr notwendig, weil die Schulen schon vorzeitig über eine Nichtversetzung informieren. Es erfährt niemand mehr am Tag des Zeugnisses, dass er nicht versetzt wird.

Ihr Beratungsangebot richtet sich sowohl an Eltern und Schüler, als auch an Lehrer. Wer meldet sich am häufigsten bei Ihnen?

Bendszus: Am Tag der Zeugnisvergabe melden sich vor allem Eltern mit Fragen: Wie gehe ich damit um, dass mein Kind nicht motiviert ist? Wie gehe ich mit einem schlechten Zeugnis, ungerechten Noten oder Belohnungen um?

Ist es sinnvoll, Kinder für gute Zeugnisnoten zu belohnen?

Bendszus: Belohnungen für gute Zeugnisnoten haben in manchen Fällen mittlerweile erschreckende Ausmaße angenommen. Ich würde Noten gar nicht belohnen. Ich finde es viel schöner, ein Ritual zu pflegen, gemeinsam essen gehen oder etwas zu unternehmen – unabhängig vom Notenspiegel. Damit würdigt man die Leistung des Kindes, kann es trösten und ermutigen. Studien belegen, dass durch das Bezahlen die Motivation verloren geht.

Was ist das größte Problem, mit dem sich Eltern bei Ihnen melden?

Bendszus: Eines der Probleme im Umfeld der Zeugnisvergabe mit den größten Auswirkungen ist, wenn bereits ein Schuljahr wiederholt wurde und dann erneut eine Wiederholung droht.

Was raten Sie den Eltern in einem solchen Fall?

Esther Overheid: Schlechte Zeugnisnoten fallen nicht vom Himmel, sondern kündigen sich an. Daher ist es wichtig, frühzeitig mit dem eigenen Kind, mit Lehrern und der Schule zu sprechen oder auch Beratung in Anspruch zu nehmen. Wir schauen uns natürlich immer den individuellen Fall an.

Eine Mutter ruft an, ihre 15-jährige Tochter ist bereits sitzen geblieben, jetzt droht die zweite Versetzungsgefährdung. Was raten Sie?

Overheid: Zuerst nehmen wir uns Zeit, mit der Mutter und Tochter die Situation zu eruieren. Welche konkreten Schwierigkeiten bestehen? Wie sind Leistungsstand, Motivation und Leistungsentwicklung? Liegt eine Überforderung vor? Wie ist die Beziehung zur Lehrkraft? Wo liegen die Stärken und Ressourcen der Schülerin? Wie ist die Beziehung zu den Mitschülern? Wie sieht die Situation zu Hause aus? Wie ist das Verhältnis zu den Eltern? Dann versuchen wir, die Schule frühzeitig in die Beratung einzubinden. Dazu arbeiten wir gerne am runden Tisch mit Eltern und Lehrern zusammen, wenn alle dazu bereit sind. Damit haben wir viel Erfolg. Generell schauen wir: Was braucht der Schüler, die Schülerin, um gut zu lernen?

Wie stehen Sie zu dem Thema Nachhilfe?

Bendszus: Nachhilfe ist auf Dauer keine Lösung. Sie kann über einen gewissen Zeitraum hilfreich sein bei Schülern, die aus verschiedenen Gründen Stoff nachholen müssen oder ihn vertiefen wollen. Unbedingte Voraussetzung ist aber, dass die Schüler motiviert sind. Andernfalls kann Nachhilfe schnell zur Qual werden und ebenfalls zur Schulmüdigkeit beitragen.

Es gibt den Ausdruck „Eine Ehrenrunde drehen“. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Bendszus: Wenn jemand rückblickend von einer Ehrenrunde spricht, dann hat der Ausdruck etwas Selbstwertbewahrendes. In diesem Fall ist es ein hilfreicher Begriff. In der konkreten Situation ist die Ehrenrunde für Schüler eine Niederlage. Sie brauchen dann Trost, Ermutigung und eine Perspektive. Deshalb wäre ich mit diesem Begriff vorsichtig. Die Gefahr ist auch, dass man die Situation mit diesem Begriff verharmlost.

Sind Sie gegen Sitzenbleiben?

Bendszus: Es gibt Fälle, in denen gemeinsam mit Schule, Eltern und Schüler bewusst entschieden wird, dass das Jahr wiederholt werden soll, weil der Schüler entweder viel verpasst oder sich in der Klasse nicht wohlgefühlt und wenig gelernt hat. Ich fände es schade, wenn das nicht mehr möglich wäre. Bis zum Sitzenbleiben sollte es allerdings nicht kommen und stattdessen im Vorfeld die individuelle Problematik angegangen werden.

Die Anforderungen steigen. Was hat Schüler vor zehn Jahren belastet und was heute?

Bendszus: Die Probleme haben sich ständig verändert. Viele Eltern legen heute einen großen Fokus vor allem auf das schulische Wohlergehen ihrer Kinder. In anderen Familien fehlt dieser Fokus hingegen völlig: Kinder werden nicht begleitet, haben keine Strukturen. Andere Eltern machen sich schon in der Grundschule große Sorgen um die Empfehlung für ihr Kind für die weiterführende Schule. Diese Angst der Eltern überträgt sich auf die Kinder und ist für den Lernerfolg hinderlich. In manchen Familien gibt es dann nur noch das Thema „Schule“. Schule war früher nicht so im Fokus wie heute. Es wäre wünschenswert, dass die Entscheidung, auf welche Schule mein Kind geht, später fällt als nach der vierten Klasse.

Also lieber sechs Jahre Grundschule – etwa wie in Berlin?

Bendszus: Ich persönlich würde sagen, ja. Mindestens. Es gibt noch Beispiele in anderen Ländern, wo man sogar noch länger wartet. Kinder haben in den verschiedenen Entwicklungsbereichen unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten und holen Rückstände häufig auf, wenn man ihnen Zeit und Raum lässt.

Worin bestehen die Stärken, worin die Schwächen unseres Schulsystems?

Bendszus: Das ist schwierig zu sagen. Letztendlich haben alle Schulsysteme ihre Stärken und Schwächen. Die Ressourcen fehlen, die Gesellschaft investiert insgesamt zu wenig Geld in Bildung. Die Lehrer, die wir in der Beratung erleben, sind meistens super engagiert und bereit, vieles auszuprobieren. Sie gehen häufig über ihre Grenzen hinaus.

Die Debatte um G8 und G9: Hätte man es bei G8 belassen sollen?

Bendszus: Es gibt Gründe, die dafür sprechen und Gründe, die dagegen sprechen. Wichtiger ist, den Wechsel so zu gestalten, dass die Betroffenen nicht das Gefühl haben, ihnen werde eine Entscheidung übergestülpt.

Warum wollen manche Kinder nicht mehr in die Schule?

Overheid: Wenn Schüler nicht mehr in die Schule gehen, kann man drei Formen mit unterschiedlichen Auslösern unterscheiden, wobei auch Mischformen möglich sind. Erstens die Schulphobie, die oft in der Grundschule zu finden ist. Kinder haben Angst, in die Schule zu gehen. Auslöser ist oftmals eine Trennungsängstlichkeit, die entstehen kann, etwa, wenn es im Umfeld des Kindes einen Todesfall gegeben hat oder wenn sich die Eltern getrennt haben. Zweitens die Schulangst. Hier sind die Ursachen eher in der Schule zu verorten, bei Mobbing oder Leistungsdruck. Drittens das Schwänzen oder die sogenannten schulmüden Schüler, denen die Motivation fehlt.

Welche Altersgruppe ist von Schulverweigerung besonders betroffen?

Bendszus: Leider gibt es das auch schon im Grundschulalter. Schulverweigerung als Schwänzen tritt vermehrt in Familien auf, die für sich keine Chance in der Gesellschaft sehen. Diese Botschaft kommt früh bei den Kindern an.

Overheid: Der Schulerfolg in Deutschland hängt sehr von der sozialen Schicht ab. Schulverweigerung hat meist eine lange Vorgeschichte. Die Schulverweigerung beginnt schleichend, bis der Schüler irgendwann gar nicht mehr zur Schule geht.

Was kann solchen Schülern helfen?

Bendszus: Die Beziehungen zu den Lehrern sind ausschlaggebend. Ein Schüler, der eine gute Beziehung zu seinem Lehrer hat, der kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit eher in die Schule als jemand, dem diese Beziehung fehlt.

Es gibt aber auch auf der anderen Seite Schüler, die sich selbst unter Druck setzen....

Bendszus: Ja, das hat zugenommen. Schüler machen sich selbst einen hohen Druck, beispielsweise ein gutes Abitur zu machen, auch die Konkurrenzsituation unter den Schülern ist relativ groß. Tendenziell steigt das weiter an und geht teilweise auch mit psychischen Problemen einher.

Wie erkenne ich, ob mein Kind unter hohem Druck steht?

Overheid: Es gibt die typischen Stresssymptome: Schlafstörungen, Ängste vor dem Schulbesuch oder der Klassenarbeit. Es treten auch oft Kopfschmerzen auf.

Bendszus: Das Essverhalten ändert sich. Die Kinder haben dann keinen Appetit mehr, vernachlässigen Freunde und Hobbys.

Was kann man tun?

Bendszus: Eltern sollten bei entsprechenden Anzeichen das Gespräch mit dem Kind suchen. Leistungsorientiertheit ist aber zugleich auch Teil der Persönlichkeit. Bei Leistungsdruck wäre es gut, wenn ebenfalls die Schulen gegensteuern und nicht die Konkurrenz zwischen den Schülern noch fördern, sondern das Miteinander. Auch Eltern können selbst sehr leistungsorientiert sein und außer Beruf und Leistung wenig Ausgleich durch Freunde oder Hobbys haben. Das wirkt sich auch auf die Kinder aus.

Overheid: Um eine solche Entwicklung vorzubeugen, sollte die Anstrengung wertgeschätzt und nicht die Note belohnt werden. Die investierte Mühe zählt mehr als die Leistung auf dem Papier.

Welche problematischen Lernstrategien gibt es?

Overheid: Die „Lernaufschieberitis“. Schüler schieben das Lernen solange auf, bis sie sich alles innerhalb kürzester Zeit merken müssen. Das führt vor Prüfungen zu Stress. Helfen kann ein Lernplan mit Lerneinheiten und festen Erholungsphasen.

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