Marathon in Bonn Der Marathon im Kopf

BONN · Für die meisten Sportler ist die Teilnahme an einem großen Laufevent unvergesslich. Auf dem Weg zum Ziel passiert in den Köpfen der Läufer so einiges. Unser Autor hat es selbst erlebt.

Was denkt so ein Marathonläufer? Viel Unsinn und vor allem an sich selbst. Wer glaubt, dass ein Marathon oder Halbmarathon nur mit den Füßen gelaufen wird, der irrt. Der Kopf läuft mit. Er bremst. Oder er beflügelt. Jedenfalls passiert eine ganze Menge zwischen den Ohren. Forscher glauben, dass Laufen auch das Gehirn auf Trab bringt. Tuning für den Denkapparat sozusagen. Angeblich bilden sich neue Gehirnzellen und schon bestehende werden effektiver verknüpft. Womöglich hilft Laufen sogar, Alzheimer vorzubeugen. Sind Läufer also schlauer? Auf jeden Fall sind sie gesünder doof.

Ein fixes Gehirn schadet zumindest nicht, denn (Marathon-)Läufer denken die gesamten 42,195 Kilometer (oder eben 21,1 Kilometer) ohne Unterlass. Untersuchungen belegen, dass die Top-Läufer ständig auf Laufstil und Körpergefühl achten. Sie horchen in sich hinein und ziehen ihre Schlüsse daraus. Außerdem müssen sie ihr Tempo kontrollieren. Nicht zu langsam, nicht zu schnell, jeder Kilometer hat seine Durchgangszeit. Und wenn das mehrere Läufer gleich gut machen, mag die Renntaktik entscheiden. Eine kurze Tempoverschärfung kann die Rivalen demoralisieren.

Der Hobbyläufer will niemanden demoralisieren. Im Grunde geht es ihm nur darum, selbst nicht demoralisiert zu sein. Er will überleben. Ankommen. Nicht aufgeben. Dazu muss auch er den Kopf einschalten. Sich Etappenziele setzen. Sich auf etwas freuen. Sich ablenken. Sich unter Umständen nötigen, weiterzulaufen. Sich aber auch zur Vernunft rufen, wenn es wirklich nicht mehr geht (beziehungsweise läuft). Erreicht der Jogger das Ziel, läuft er vielleicht noch einen Marathon. Und noch einen. Viele Hobbyläufer durchleben drei Phasen:

Der Debütant: Der Kopf läuft lange vor dem Start los. Wahrscheinlich schon am Abend zuvor. Leichte Steigerungsläufe in der Küche signalisieren: Da ist einer nervös. Der Debütant weiß nicht, was ihn erwartet. Vom „Mann mit dem Hammer“ hat er gelesen, kann sich aber noch nicht vorstellen, mit welcher Wucht er zuschlägt. Diese Ungewissheit lässt den Debütanten strammstehen. Aber dann . . . ist alles halb so schlimm. Vielleicht läuft der Novize seinen ersten Marathon ohnehin mit einem Trainingspartner. Oder er findet bald nach dem Start jemanden mit demselben Tempo und kommt in einen Rhythmus. Die Begeisterung trägt ihn jetzt. Die Begeisterung über sich selbst und die der Zuschauer. Am Ende glaubt der Debütant tatsächlich, die Menschen jubelten nur für ihn. Bevor er seinen Irrtum entdeckt, ist er im Ziel.

Der Ambitionierte: Der Debütant ist jetzt kein Debütant mehr und wird mutig. Er setzt sich ein Ziel, das übers Ankommen hinausgeht. Unter 4:00 Stunden etwa. Oder unter 3:45. Die Vorbereitung war vielleicht seriös, doch nicht perfekt. Es muss alles, wirklich alles passen, um die vorgegebene Zeit zu erreichen. Und diesmal wird’s eng.

Womöglich reicht schon ein bisschen Gegenwind auf den ersten Kilometern, damit die Moral unter Meereshöhe sinkt. Oder wenn leicht adipöse Best Ager im Dieselmodus scheinbar anstrengungslos zum Überholen ansetzen – am besten mit einem Spruch auf der Rückseite des Lauf-Shirts: „Ab geht die Post.“ Das wäre jetzt der Zeitpunkt, um auszusteigen. Oder aber der Zeitpunkt, an dem der Kopf auf die Überholspur geht.

Der Kopf könnte zum Beispiel sagen: An diesem dicken Hintern da vorne, da bleiben wir drei (die Füße und der Kopf) jetzt mal dran. Wir versuchen das bis Kilometer 15, 20, 25, 30 – und plötzlich sind’s nur noch gut zehn Kilometer. Eine Trainingseinheit. Aber das rechte Knie schmerzt und schreit: „Stop!“

Um es zum Schweigen zu bringen, muss der Kopf auf andere Gedanken kommen. Man kann ihn etwa mit Rechnen beschäftigen: Wie viele Sekunden darf ich pro Kilometer langsamer laufen, um in der Zeit zu bleiben? Oder mit Vorfreude: auf die Ziellinie, auf die Umarmung des Partners, auf ein Erfrischungsgetränk mit Schaum. Oder aber mit viel unangenehmeren Alternativen: Jetzt beim Zahnarzt zu sitzen, wäre schlimmer.

Derart beschäftigt, nimmt so mancher Läufer seine Umwelt nicht mehr wahr. Bekannte schwören Stein und Bein, ihn dreimal aus nächster Nähe angebrüllt zu haben, aber der Läufer läuft im Tunnel. Sieht er Licht am Ende des Tunnels, ist das die Ziellinie.

Der Genießer: Die Traumzeit ist erreicht – oder hat sich als unerreichbar herausgestellt. Fortan soll Marathon nur noch Genuss sein. Weil die Zeit lang werden kann, empfiehlt es sich, unterwegs die Welt zu erklären. Allein die Erörterung der Frage, wann der 1. FC Köln endlich in der Champions League spielt, reicht für einen Halbmarathon.

Epilog, der Zauderer: Dieser Läufer denkt noch mehr als die anderen. Nämlich fortwährend darüber nach, eines Tages einen Marathon zu laufen. Am Marathontag stellt er sich aber lieber an den Straßenrand und guckt den Läufern beim Denken zu. Zum Beispiel am Sonntag in Bonn.

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