Ein Jahr nach dem Bombenanschlag Der Schock von Gleis 1

BONN · Nach Monaten voller Wirrwarr um Informationen und Zuständigkeiten werden die Zusammenhänge mit dem salafistischen Umfeld deutlich. Spurensuche im Memelweg, Neu-Tannenbusch. Ein Jahr nach dem gescheiterten Bombenanschlag im Bonner Hauptbahnhof.

Im vierten Stock eines tristen Wohnblocks hatte Marco René G. in seiner Wohnung mutmaßlich die Bombe gebastelt und zu Gleis 1 des Bonner Hauptbahnhofs transportiert. Die Bauanleitung soll er aus dem Al-Kaida-Magazin "Inspire" gehabt haben. Der Spiegel hatte im August berichtet, Ermittler hätten in G.s Wohnung einen Datenträger mit entsprechendem Inhalt gefunden.

Ein Jahr danach erinnert im Memelweg nichts mehr an Marco René G., seine Frau und den kleinen Sohn. Ihr Name ist nicht mehr unter den vielen Klingelschildern des achtstöckigen Hauses zu finden. Nachdem der 26-Jährige am 13. März nach einem versuchten Mordanschlag auf den Pro-NRW-Politiker Markus Beisicht verhaftet worden war, ist "vor drei, vier Monaten auch seine Frau ausgezogen", erinnert sich der Nachbar von gegenüber.

Die Deutsch-Türkin soll zu ihrer Mutter gezogen sein. Selbst er als direkter Nachbar erinnert sich nur an knappe "Hallos" mit G. und seiner Frau. Diese, den damals dreijährigen Sohn an der Hand, verließ stets nur vollverschleiert die Wohnung. Marco René G., ein Muslim aus der Salafistenszene, und seine Frau mieden so gut es ging Kontakte, berichten einhellig alle Nachbarn.

Bis zur Festnahme im März war G. selbst Fachleuten der Bonner Polizei und Salafistenexperten unbekannt. Dass es Pläne für ein Attentat gab, war den Ermittlern hingegen nicht verborgen geblieben. Die Polizei verhinderte die Tat vor Beisichts Wohnhaus in Leverkusen buchstäblich in letzter Sekunde. Nach Informationen des General-Anzeigers sollte eine Autobombe den 50-jährigen Rechtsanwalt töten. Für dessen Familie änderte sich das Leben trotz der Vereitelung schlagartig. Insbesondere die beiden Töchter, zehn und 14 Jahre alt, lebten monatelang in Angst. "Inzwischen", schildert Beisicht dem GA seinen persönlichen Eindruck, "scheint sich die Lage etwas entspannt zu haben."

Verhaftet wurden am 13. März in Nähe des Tatorts Marco René G. und sein mutmaßlicher Komplize Enea B. (43). Ebenfalls ins Netz der Fahnder gingen Tayfun S. (23) in Essen und Koray D. (24), der sich zum Zeitpunkt der Festnahme bewaffnet in G.s Tannenbuscher Wohnung befand. Koray D. hatte sich GA-Recherchen zufolge für den Polizeidienst in Bremen beworben. Als bereits eine Einstellungszusage vorlag, wurden eine Affinität zu Waffen und Kontakte ins extremistische Milieu bekannt. Damit endete die Polizeilaufbahn, ehe sie überhaupt begonnen hatte.

Auch wenn Marco René G. den Ermittlern im Falle Beisicht mittlerweile als möglicher Kopf einer "terroristischen Vereinigung" gilt, scheint er in der Bonner Islamistenszene ein unbeschriebenes Blatt gewesen zu sein. Bei den Krawallen radikaler Fanatiker am 5. Mai 2012 in Lannesdorf war G. der Polizei unter den 500 Randalierern, von denen 150 polizeilich erfasst wurden, jedenfalls nicht aufgefallen. Der vor Jahren zum Islam Konvertierte soll 2011 aus dem Raum Essen nach Bonn gezogen sein. Da hatte sich der aus Oldenburg stammende G. bereits in islamistischen Kreisen im Ruhrgebiet radikalisiert.

[kein Linktext vorhanden]Mitte der 2000er-Jahre, so berichteten Medien, soll gegen ihn ein Verfahren wegen schwerer räuberischer Erpressung geführt worden sein. 2006 legte das Landeskriminalamt Niedersachsen eine Kriminalakte mit DNA-Spuren an. Die Staatsanwaltschaft in Oldenburg wollte sich auf GA-Anfrage zu dem Fall nicht äußern.

Anderen Berichten zufolge soll G. auch Kontakte zu den aus Kessenich stammenden Brüdern Chouka gehabt haben. Beide reisten vor Jahren in den "heiligen Krieg" nach Afghanistan. Yassin Chouka rief voriges Jahr via Internet dazu auf, Pro-NRW-Politiker zu töten. Weil diese in Lannesdorf eine Mohammed-Karikatur hochgehalten hatten, was den Islamisten als Vorwand für heftige Straßenschlachten mit der Polizei diente. Dass G. und seine drei Komplizen das Attentat auf den Politiker geplant hatten, daran scheint kein Zweifel zu bestehen: Bei der Festnahme war G. mit Schusswaffen und Sprengstoff bewaffnet. Als die Ermittler auch in G.s Wohnung am Memelweg sprengstofffähiges Ammoniumnitrat fanden, bekräftigte dies den Verdacht, der 26-Jährige könnte auch die Bombe gebaut haben.

Die Bundesanwaltschaft, unter deren Federführung die Ermittlungen beim Bundeskriminalamt laufen, ist offenbar sicher, mit Marco René G. die richtige Fährte gefunden zu haben: "Aufgrund einer Gesamtschau aller Indizien geht die Bundesanwaltschaft mittlerweile davon aus, dass G. derjenige war, der auf den Aufnahmen der Überwachungskamera zu sehen ist und der die Tasche mit dem Sprengsatz am Bahnsteig abgestellt hat", sagt Oberstaatsanwalt Marcus Köhler, Pressesprecher beim Generalbundesanwalt, dem General-Anzeiger.

[kein Linktext vorhanden]Die Frage der möglichen Tatbeteiligung weiterer Personen aus dem militant-salafistischen Umfeld kann laut Köhler noch nicht abschließend beurteilt werden. "Gewichtige Verdachtsmomente liegen bislang allerdings lediglich gegen Marco René G. vor. Sämtliche Beschuldigte sind weiterhin in Untersuchungshaft", so der Sprecher.

Derweil wartet der Bonner Rechtsanwalt Peter Krieger, der die Verteidigung von G. übernommen hat, auf die Erhebung der Anklage. Gegenüber dem GA äußert er sich zurzeit nur knapp, macht dabei aus seinem Unmut über die lange Wartezeit jedoch keinen Hehl: "Es ist nicht bekannt, ob die sich hieraus ergebende Verzögerung auf Versäumnissen des Bundeskriminalamtes beruht oder aber die Ursache im Bereich des Generalbundesanwalts liegt. Mein Mandant sitzt in Untersuchungshaft. Solche Verzögerungen sind daher nicht hinzunehmen", so der Rechtsanwalt.

Über die innere Haltung seines Mandanten zu den Taten, die diesem zur Last gelegt werden, äußert sich der Verteidiger noch nicht. Hierzu wird die Öffentlichkeit mutmaßlich erst im Gerichtssaal etwas erfahren. Unterdessen ist von der Bundesanwaltschaft zuhören, dass sich die Ermittlungen noch etwas hinziehen werden. Mit einer Anklageerhebung könne im Frühjahr gerechnet werden, heißt es bei der Behörde in Karlsruhe.

Die Indizien

Es scheint eine Reihe von Indizien dafür zu geben, dass Marco René G. an dem versuchten Bombenanschlag maßgeblich beteiligt war. In seiner Wohnung fand die Polizei nach G.s Festnahme am 13. März rund 600 Gramm sprengfähiges Ammoniumnitrat, wie es auch die Bombe am Bahnhof enthalten hatte. Diese war zwar gezündet worden, detonierte aber nicht. Später tauchte dann im Kühlschrank der Wohnung weiteres sprengfähiges Material sowie, versteckt in einem Staubsauger, eine zweite Pistole auf.

Hatten Ermittler im Hintergrund auch bereits zuvor einen Zusammenhang zwischen dem Attentatsversuch auf den Pro-NRW-Politiker Markus Beisicht und dem Bombenanschlagsversuch geprüft, so war dies das erste größere und greifbare Stück jenes Indizienpuzzles. Hinzu kam schon damals, dass G. in einem Telefonat geäußert haben soll, er müsse bei der Aktion gegen Pro NRW aufpassen.

Wenn man nur ein Haar von ihm da fände, ginge er fünf Jahre in den Bau wegen Bonn. Eine andere Spur führte zu einem Versandhändler, der eine blaue Tasche zusammen mit einer Laptoptasche verkauft haben soll, wie sie ebenfalls in G.s Wohnung gefunden worden war.

Auf dem Überwachungsvideo war nicht nur eine blaue Tasche, sondern auch eine beige Jacke zu sehen, die ebenfalls im März bei der Wohnungsdurchsuchung gefunden worden sein soll. Auch die Körpergröße G.s passt zu jenem Mann, den Überwachungskameras gefilmt hatten. Außerdem fanden die Ermittler an dem Sprengsatz DNA-Spuren von G.s Frau und seinem dreijährigen Sohn.

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