Interview mit dem Soziologen Jürgen Friedrichs „Der Trend zu ethnisch-homogenen Gruppen dürfte sich fortsetzen“

Bonn · Der Kölner Soziologe Jürgen Friedrichs mahnt, dass Integration ohne Investitionen in Bildung und Arbeitsmarkt nicht gelingen kann. Mit ihm sprach Jutta Specht.

Wie finden Sie den Begriff Willkommenskultur?
Jürgen Friedrichs: Es gibt wesentlich bessere Begriffe. Man hat das Gefühl, dass damit auch etwas verschleiert wird. Ich würde lieber von Bleibekultur sprechen. Und wünsche mir, dass sie von Toleranz und Hilfsbereitschaft getragen wird. Neugier wäre ein dritter Aspekt.

Welche Motive haben Flüchtlingshelfer?
Friedrichs: Wir haben dazu Studien gemacht, und es hat sich herausgestellt, dass ein ganzes Bündel an Beweggründen bei den Helfern eine Rolle spielt. Drei Motive kristallisieren sich heraus. Menschen helfen aus der Ohnmacht, Kriege verhindern zu können. Zweitens, sie wollen sichtbar helfen. Sie wollen den Erfolg ihres Einsatzes sehen können. Das ist anders als bei einer Spende, die auf ein anonymes Konto geht. Der dritte Punkt ist der Gewinn an sozialen Kontakten und die Arbeit in der Gruppe.

Haben die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln Auswirkungen auf die Helferszene?
Friedrichs: Politische Auswirkungen haben sie auf jeden Fall. Diese Vorfälle waren das Schlimmste, was toleranten Bürgern angetan werden konnte. Sie haben Ängste aktualisiert, was „unseren“ Töchtern oder Frauen passieren kann. In dieser Nacht hat Willkommenskultur ihre Unschuld verloren. Nach meinem derzeitigen Erkenntnisstand gehe ich aber von einer einmaligen Aktion aus.

Welche Rolle spielen soziale Medien in der Flüchtlingsthematik?
Friedrichs: Großartig, wie schnell Menschen sich informieren, sich innerhalb kurzer Zeit vernetzen können und welche Reichweite sie haben. Schlimm ist aber, dass auch krude Ideen und abartige Meinungen kursieren. Oder glatte Lügen, die die Leute für wahr halten. Zum Beispiel die erfundene Geschichte von dem 13-jährigen russischstämmigen Mädchen, das angeblich Anfang des Jahres in Berlin von Migranten vergewaltigt wurde. Ganz schlimm, wenn solche Falschmeldungen von den jeweiligen Absendern für Stimmungsmache instrumentalisiert und zu einer politischen Bombe werden können. Ich kann jedem Nutzer sozialer Medien nur raten, den Infos aus dem Netz nicht blind zu glauben.

Worauf reagieren Rechtsextreme, auf welche Vorurteilsstrukturen bauen sie auf?
Friedrichs: Man muss eingestehen, dass Vorurteile auch in akademischen Kreisen herrschen. Wir sprechen von einer schweigenden Mehrheit, die von Rechtsextremen für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. Die Manipulation ist möglich, weil diese Menschen in ihrer Haltung unsicher sind. Ein klares Urteil basiert auf Wissen. Soll heißen, wir müssen bei der Bildung beginnen, also auch bei den Lehrern, die als Wissensvermittler eine klare Position beziehen müssen. Gleiches gilt für Regierungen oder die Polizei.

Wie geht es weiter mit dem Integrationsprozess?
Friedrichs: Die politische Stimmung entwickelt sich im Kontext der polarisierenden Frage, ob Flüchtlinge als Bereicherung oder Bedrohung aufgefasst werden. Dieses Pendel wird in der Bevölkerung in die eine oder andere Richtung ausschlagen, je nachdem wie viele Flüchtlinge in einem bestimmten Zeitraum kommen. Im Alltag gehen Flüchtlinge dahin, wo Landsleute sind. Daraus könnte resultieren, dass Ballungsräume überproportional frequentiert sind. Der Trend dürfte sich fortsetzen, dass sich in Stadtvierteln ethnisch-homogene Gruppen entwickeln. Wichtig ist ein Bildungsangebot, angefangen bei der Alphabetisierung. Ein Beispiel: 35 Prozent der Frauen, die aus Afghanistan kommen, sind auf dem Land aufgewachsen und waren nie in der Schule. Wenn sie kein Deutsch lernen, können sie nicht zur Sozialisation ihrer Kinder beitragen. Die geraten dann in einen Konflikt. Und eines kann ich mit Gewissheit sagen: Integration gibt es nicht zum Nulltarif.

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