GA-Herbstbarometer „Die Globalisierung schafft den Heimatboom“

Bonn · Mehr als 3000 Menschen haben sich beim GA-Herbstbarometer überwiegend positiv über die Lebensqualität in der Region geäußert. Über die Bedeutung von Heimat sprach Rüdiger Franz mit dem Bonner Soziologen Professor Dr. Clemens Albrecht.

 Die Kennedy-Brücke in Bonn.

Die Kennedy-Brücke in Bonn.

Foto: Volker Lannert

Mehr als 3000 Menschen haben sich beim GA-Herbstbarometer überwiegend positiv über die Lebensqualität in der Region geäußert. Über die Bedeutung von Heimat sprach Rüdiger Franz mit dem Bonner Soziologen Professor Dr. Clemens Albrecht. Mit diesem Interview endet die Serie zum Thema.

Das GA-Herbstbarometer weist die Menschen in Bonn und der Region als heimatverbunden aus. Welche Faktoren sorgen im Allgemeinen für Heimatgefühl?

Clemens Albrecht: Heimat ist für den Menschen in erster Linie der Ort, an dem er aufgewachsen ist. Wir sind nicht nur an die Personen gebunden, die unsere früheste Umwelt geprägt haben, sondern auch an die Räume. Und dort, wo beide verschmelzen, ist Heimat. Deshalb sagen wir „Elternhaus“.

Die emotionale Bindung an einen Ort wurde lange belächelt. Inzwischen sind dazu eher nachdenkliche Töne zu hören. Erfährt der Heimatbegriff eine Renaissance?

Albrecht: Alle Orte, an denen wir uns bewegen, sind mit Emotionen verbunden. Die Fremde mit Neugier, Anregung, aber auch Angst und Unsicherheit; die Heimat mit Geborgenheit, Vertrautheit, aber auch Enge und Langeweile. Wer selbstverständlich in der Heimat lebt, braucht nicht über sie nachzudenken und von ihr zu reden. Erst die Mobilitätsanforderungen der modernen Gesellschaft rufen das Thema hervor. Man kann deshalb sagen: Die Globalisierung schafft den Heimatboom.

Inwieweit hat sich Heimatgefühl aus Sicht Ihrer Wissenschaft über die Jahrhunderte verändert?

Albrecht: Heimat ist großräumiger geworden. Wenn meine Urgroßmutter Heimweh hatte, stieg sie in den Taubenschlag des Hauses. Von dort konnte sie den Kirchturm des Nachbardorfes sehen: ihre Heimat. Wir dagegen, gewohnt an großräumige Bewegungen, heute in Bonn, morgen in Berlin, London oder Schanghai, empfinden dann schon heimatlich, wenn wir die Sprache verstehen. Es gibt Virtuosen der Beheimatung, die dieses Gefühl von Orten abgekoppelt haben, an Personen binden, gleichgültig, wo diese sich aufhalten, an die Katze, an einen Gegenstand aus ihrer Kindheit, den sie immer mit sich führen. Andere, die es mit einem Umgebungstypus verbinden, einer Großstadt etwa, und sich fremd fühlen, sobald sie eine Landschaft sehen.

Ist Heimat zeitlos? Angenommen, ein Bonner kehrte nach 50-jähriger Abwesenheit im Jahr 2016 erstmals in seine Heimatstadt zurück. Wie „heimisch“ wird er sich fühlen?

Albrecht: Heimat ist nur in der Erinnerung zeitlos. Der Ort aber, an den diese Erinnerung gebunden ist, kann schnell fremd werden – so fremd, wie man sich selbst gegenüber fremd wäre, wenn man 50 Jahre später neben sich stehen würde. Es gibt unzählige Romane, Kurzgeschichten, Filme, in denen diese Rückkehr in die entfremdete Heimat geschildert wird. Manche entdecken erst bei der Ankunft, dass es ihre Heimat war.

Viele Bonner sind spürbar stolz auf ihre Stadt. Zugleich wird mit vielen Dingen gehadert. Können gravierende Fehlentscheidungen Bewohnern die eigene Stadt verleiden?

Albrecht: Sicher. Ob dieses Verleiden allerdings an Entscheidungen von Politikern gebunden ist, oder an Entwicklungen, die manche halb gewollt, aber in ihren Konsequenzen nicht übersehen haben, ist eine offene Frage. Neulich las ich in einer überregionalen Zeitung, dass eine Bad Godesberger Familie umgezogen ist, weil sie sich nicht mehr sicher fühlt. Im Südwesten, wo Grüne Kommunalpolitiker eine forcierte Umweltpolitik betreiben, verlassen manche, die nicht aufs Auto verzichten wollen, die Städte und ziehen aufs Land. Und auch der Aufstieg einzelner Stadtteile, das, was wir Soziologen „Gentrifizierung“ nennen, und erst recht der Abstieg, verleidet den Wohnort – nicht aber unbedingt die Region, wenn sie Heimat ist.

Die Umfrageergebnisse räumen der Sicherheit, dem Wohnen und dem Verkehr hohen Stellenwert ein. Ist das auffällig, oder sind dies dieselben Bedürfnisse wie andernorts?

Albrecht: Nein, diese Bedürfnisse sind verallgemeinerbar. Wenn allerdings Sicherheit im Bezug auf Heimat betont wird, dem per definitionem sicheren Raum, sollten bei jedem Politiker Alarmglocken schrillen. Bedenken muss man auch, dass die Leute vermutlich nicht mit Wohnen, wohl aber mit „Verkehr“ Verschiedenes verbinden: Die jungen Autolosen das öffentliche Verkehrsnetz, die Älteren die Qualität der Straßen und die Zeit im Stau. Dies muss allerdings noch um den Faktor „Arbeitsplatz“ erweitert werden. In der gegenwärtigen Phase, nahe an der Vollbeschäftigung, spielt das keine Rolle. Sollten die Arbeitslosenzahlen wieder einmal steigen – und das werden sie –, dann wird dieses Thema schnell in ihren Umfragen sichtbar werden.

Wer bis in die 60er Jahre in Bonn die Grundschule besuchte, hatte das Schulfach Heimatkunde. Was hielten Sie von seiner Wiedereinführung – auch als „Integrationshilfe“?

Albrecht: Wenn Sie dieses Schulfach in die Hände der gegenwärtig dominierenden Didaktiker geben, halte ich nichts davon. Dann wird nämlich schnell eine „Kompetenz“ daraus, etwa die Fähigkeit, die richtige Buslinie zu finden. Wenn Sie die Kinder aber mit der Ortsgeschichte vertraut machen wollen, mit dem Wandel und der Konstanz von Bevölkerungsanteilen, wenn Sie es mit Erinnerungsgeschichte verbinden, die Älteren in die Schulen holen, kann es wertvoll sein.

Der „Post-Glücksatlas“ weist aus, dass die Menschen in Deutschland so glücklich sind wie nie zuvor – und das besonders im Rheinland. Aber: Sind Emotionen wie Zufriedenheit und Glück überhaupt messbar?

Albrecht: Nein. Schon deshalb, weil es vermutlich nur wenige Fragen gibt, auf die man nur sozial erwünschte Antworten bekommt. Dann können Sie gleich fragen: Finden Sie Donald Trump gut? Und selbst wenn die Leute „ehrlich“ antworten würden: Was heißt das schon? Unzufriedenheit wird beim einen vielleicht dadurch ausgelöst, dass er die U-Bahn verpasst, beim anderen, dass ihn seine Frau verlassen hat. Und ein Computerzocker ist unglücklich, weil er gestern Abend im Spiel so schnell erschossen wurde. Die Spezifizierung der Frage „im Allgemeinen“ hilft hier nicht weiter. Gefühle sind flüchtig. Fragen Sie den Vogel, wo er gerade fliegt, und fixieren Sie die Antwort als Wahrheit.

Sie selbst stammen aus Baden-Württemberg, wo es an Identitätsmerkmalen nicht mangelt. Welche konkreten Merkmale einer charakteristischen Heimatstadt haben Sie in Bonn ausgemacht?

Albrecht: „Mir könned älles außer Hochdeitsch!“ Im Raum: den Rhein. Im Ohr: Beethoven. Bei den Menschen: viele, die sich hier zu Hause fühlen. Im Umgang mit ihnen: Fröhlichkeit und Offenheit. Und dann diese seltsamen Sitten der Eingeborenen. Ich glaube, sie nennen es „Karneval“…

Clemens Albrecht wurde 1959 in Stuttgart geboren, studierte Geschichte, Volkskunde, Soziologie und Völkerkunde in Tübingen und war ab 2002 als Professor für Soziologie an der Universität Koblenz/Landau (Campus Koblenz). Seit April 2016 hat er einen Lehrstuhl am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort