Die Millionenfalle, Teil 42

Jürgen Nimptschs Grundsatzrede zum WCCB empört den Stadtrat und stellt die Rechnungsprüfer ins Abseits.

Im alten Athen sinnierten die Philosophen einst - vor rund 2 500 Jahren - über die Macht, wie sie zu organisieren und zu verteilen sei. Im Vorhof der Demokratie stritt man über Rede und Widerrede, und eine Diskussion über die Rolle der Medien in einer freien Gesellschaft hätte damals, als es noch keine Zeitung gab, gewirkt wie heute eine Debatte über Außerirdische.

Rund 2 500 Jahre später treffen sich die Volksvertreter der Stadt Bonn, um über ein aus den Fugen geratenes und immer teurer werdendes Großprojekt namens WCCB (World Conference Center Bonn) zu debattieren. Genau am 13. Juli 2010, 20 Uhr. Das ist (wegen des Redaktionsschlusses) recht spät, wenn die Zeitungen darüber berichten sollen. Nicht nur in Sonntagsreden wird betont, dass sie ein wichtiges Kontrollorgan in der Demokratie seien. Auch in einer Stadt.

Um 20.11 Uhr eröffnet Jürgen Nimptsch (SPD), Bonns Oberbürgermeister, den Diskurs mit seiner Rede, die formal schwer zu fassen ist: Monolog? Vorlesung? Aufführung? Jedenfalls ist er zeitlich 69 Minuten und drucktechnisch über 12 Seiten unterwegs. Es ist eine so lange Rede, dass jede Widerrede - rein zeitlich - in der "Zeitung von morgen" kaum eine Chance hat.

Es hört sich weise an: "Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben" - mit diesem Zitat des Schriftstellers André Gide startet Nimptsch in seine 69 Minuten. Darin entfaltet er eine Art Nimptsche Relativitätstheorie zum WCCB. Nichts ist absolut, alles relativ, etwa der Bericht des Rechnungsprüfungsamtes (RPA), die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die Inhalte von 41 "Millionenfalle"-Folgen im General-Anzeiger.

Nichts sei heute absolute Wahrheit, die einmal ganz anders aussehen könnte. Alles sei so relativ, dass eine voreilige Fakten-Interpretation heute große Risiken berge. Nimptsch ermahnt zur Vorsicht (die Mutter der Porzellankiste), während die Ermahnten sagen, dass seine Worte noch mehr "Porzellan zerschlagen" haben. Und dann sagt er noch, dass nur er die Strafakten kenne, was so nicht im Redeabdruck steht, aber "es gilt das gesprochene Wort".

Ob das Behauptete stimmt, weiß nur der Staatsanwalt. Der jedoch schweigt. Aber so ein Satz wirkt. Er suggeriert, dass niemand einen tieferen Einblick in die WCCB-Historie habe als Nimptsch, und so lebt der eherne Ringkampf zwischen Rhetorik und Inhalt auch in der Neuzeit weiter: Schon in der Antike hatte Platon die getrennten Wege von Redekunst und Wahrheitssuche beklagt.

Nimptsch provoziert im Stadtrat heftige Emotionen. Diese reichen von verblüfft über schockiert bis empört. "Weißglut" nennt das das Boulevardblatt "Express". Was ist die Ursache? Nur eine Metapher hilft: Die Erde dreht sich um sich selbst, aber Nimptsch hat auf seine Weise dem Rat erklärt, dass - um im Bild zu bleiben - die Nordhalbkugel sich entgegengesetzt zur Südhemisphäre dreht.

Der "Norden", das sind die Stadt, ihre Verwaltung, ihre maßgeblichen Politiker und ihr Handeln. Der Süden, das sind die RPA-Prüfer, die Staatsanwaltschaft, die Medien. Im "Süden" hat der RPA-Report längst die GA-"Millionenfalle", das Kombinieren mit wenigen Puzzle-Stücken, in unerwartetem Maße bestätigt, aber "im Norden" reklamiert Nimptsch, dass der "Süden" und alles, was er tut und denkt und ermittelt, nur vorläufig sei.

Die Ratsmitglieder stehen derweil ratlos und ohne Kompass auf dem Äquator herum. Damals, während der WCCB-Bauphase, sollten sie "keine projektgefährdenden Fragen" stellen (siehe Kasten "Fragen unerwünscht"), und heute gefährden Fragen angeblich städtische Interessen. Die gewählte Vertretung des Souveräns, des Volks, ist sprachlos und das WCCB längst auch eine Baustelle der kommunalen Demokratie geworden. Verwaltung und Rat befinden sich in der größten Vertrauenskrise seit Jahren.

Zwei Fragen bleiben: Wird Nimptschs Relativitätstheorie nicht nur Personen- und Datenschutz, seine oberste Priorität, erfüllen, sondern auch das "Universum Bonn" zusammenhalten? Wann sollen Bürgervertreter bei einem Projekt nachfragen dürfen, das die Wähler erst nichts und vermutlich bald über 200 Millionen Euro kosten wird?

"Der OB versucht, die Unschuldsvermutung zu instrumentalisieren und auf jegliche juristische Bewertung auszudehnen", sagt Peter Riegel (79), Jurist, Bonns Stadtältester und ehemaliger CDU-Bezirksvorsteher. "Er trägt sie (die Unschuldsvermutung/Anm. d. Red.) wie eine Monstranz vor sich her; dadurch wird die Aufklärung auf die lange Bank geschoben und Transparenz verhindert."

In seinem früheren Leben war Bonns OB vieles, etwa stellvertretender Referatsleiter "Beamtenrecht und Tarifrecht" beim Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (1981-1985) oder deren Erster Bevollmächtigter im Bezirk Köln (1988-1996) oder Leiter und Schauspieler der Bühnenspielgemeinschaft "Cäcilia Wolkenburg" (2001-2009). 2008 betrat er beim 13. Divertissementchen namens "Klüngel op joot Kölsch" als Stadtdirektor Hennes Roth die Bühne. Vor allem aber hat er jahrelang die Gesamtschule Bonn-Beuel erfolgreich gemanagt und bundesweit Aufmerksamkeit erzielt.

Heute ist Nimptsch, das wird gelegentlich übersehen, nicht nur der höchste Repräsentant der Stadt, sondern auch deren Verwaltungschef. Kann, wer mit langem Arm eine Gesamtschule dirigierte, auch Kontrolle und Meinungshoheit in einer Stadt organisieren? Zumindest in der eigenen Verwaltung?

Zum NachlesenMillionenfalle-WCCB (Folgen 1 bis 41)

Nimptsch hätte zum Beispiel alle seine Amtsleiter anweisen können, nicht zu den WCCB-Sondersitzungen zu erscheinen, um nicht direkt vom Rat befragt werden zu können und so unliebsame Antworten von vorneherein auszuschließen. Er könnte auch den städtischen Pressespiegel einstellen, um seinen rund 5 000 Mitarbeitern andere WCCB-Darstellungen, -Wahrheiten und -Analysen vorzuenthalten, um so seinen Sprachregelungen den Weg in die Köpfe zu erleichtern. Oder hat er genau das getan?

Am 28. Juni lässt Nimptsch den Amtsleitern eine Bitte übermitteln. Es geht um die WCCB-Sitzung am 30. Juni: "(...) dass an dieser Sitzung für die Verwaltung ausschließlich die Mitglieder des Verwaltungsvorstandes teilnehmen sollen. Eine Teilnahme von Amtsleitern (...) ist auch als Zuschauer nicht vorgesehen." Der GA fragt nach. Antwort des Presseamtes: Wegen "der hohen Arbeitsbelastung und der steigenden Zahl von Überstunden" sei den Mitarbeitern eine Teilnahme "freigestellt worden". Das habe auch für die Sitzung am 13. Juli gegolten. Das beantwortet nicht: Warum waren die Amtsleiter auch als zuschauende Bürger unerwünscht?

Einen Tag nach der letzten WCCB-Sondersitzung verabschiedet sich "das Team des städtischen Medienarchivs". Es informiert mit seiner letzten Mail: "Die Zeitungsauswertung und Erstellung des Pressespiegels wird zum 1. August eingestellt" - und liefert die Begründung gleich mit: "Durch diese Maßnahme werden 1,5 Stellen und ca. 10 000 Euro an Sachmitteln eingespart."

Horst Schallenberg, Chef des RPA, lebt eine Sonderrolle. Er vertritt zwar ein städtisches Amt, aber ein unabhängiges. Schallenberg ist zur WCCB-Sondersitzung erschienen und hat Nimptschs Sticheleien ("fleißige Faktensammlung, akribische Arbeit") registriert. Fleißig, akribisch, fehlt nur noch pünktlich. Es ist gehobene Rhetorik, mit Lob zu kritisieren. "Wissen Sie", sagt Schallenberg zu Nimptsch, "ich bin Sticheleien gegen mein Amt gewohnt."

Der Unabhängige bietet dem OB die Stirn: "Wenn man sich mit Inhalten nicht beschäftigen will, stellt man die Weitsicht der Prüfer in Frage." Schallenberg: "Ich lasse mich lieber als kleinkariert bezeichnen als dem Risiko der Untreue aussetzen." Damit hat er deutlich gemacht: Ein unabhängiges Rechnungsprüfungsamt ist ein unabhängiges Rechnungsprüfungsamt. Und auch: Eine Stadt und ihre Verwaltung ist keine Gesamtschule am Gängelband.

Immerhin: Der OB hat erstmal den Bauingenieur und WCCB-Prüfer Christian Gollnick vom RPA in sein neues WCCB-Sonderkommando berufen, als "abziehen" empfindet es der RPA-Chef.

Was Schallenberg nur andeutet, spricht Johannes Schott (Bürger Bund Bonn) in seiner OB-Replik aus: "Der Prüfbericht zum WCCB macht deutlich, dass in der Stadtverwaltung die Akten katastrophal geführt wurden. Es gab für dieses Jahrhundertprojekt keine zentrale Registratur (...)

Es fällt auf, dass in dem RPA-Bericht kein Schriftstück zitiert wird, welches von der ehemaligen Oberbürgermeisterin gezeichnet wurde. (...) Tatsächlich erinnern manche Strukturen an eine Bananenrepublik. Es bleibt zu hoffen, dass die Staatsanwaltschaft möglichst bald die Ermittlungen abschließt und keine Weisungen von der künftigen Landesregierung erhält."

Was könnte Schott meinen? Von einer "Bananenrepublik" erwartet man, dass der Mächtigste im Staat oder einer Stadt die Ermittler irgendwann zurückpfeifen lässt. Nun hat Nordrhein-Westfalen eine neue Landesregierung und mit Thomas Kutschaty - nach fünfjähriger Pause - wieder einen SPD-Justizminister. In Deutschland sind Staatsanwälte Beamte und im Gegensatz zu Richtern weisungsgebunden. Zieht Nimptsch, wie Schott andeutet, im Hintergrund tatsächlich an allen Strippen?

Nun herrscht im politischen Bonn die Sommerpause. Bald sollen die Verträge zwischen Stadt und Insolvenzverwalter unterschriftsreif werden. Der komplette WCCB-Heimfall an die Stadt, die teuerste aller Zukunftsvarianten, scheint beschlossene Sache und ist das ernüchternde Ergebnis einer millionenschweren Beratungsodyssee - ein Ergebnis, das die Stadt mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand bereits früher hätte erzielen können. Nur preiswerter. Nun rattern die Baustillstandskosten von bis zu 600 000 Euro pro Monat erst einmal weiter. Auch durchs Sommerloch.

Wenn der Rat Anfang September über die WCCB-Zukunft abstimmt, ist mehr als ein Jahr vergangen, seitdem die "Millionenfalle I" veröffentlicht wurde und das WCCB durch Verhaftungen und Insolvenzen in Schockstarre verfiel. Seitdem ist aus der Millionenfalle ein Millionengrab geworden. Wie tief es reicht, wie teuer das WCCB Bonns Bürger letztlich kommt, kann auch nach 365 Tagen niemand an die Tafel schreiben. Auch Nimptsch nicht.