In der Schuldenfalle, Teil 5 Die Tricks der Zahlen-Partisanen

Bonn · Den eigenen Schatten sieht man nur, wenn man der Sonne den Rücken zudreht. Beim kommunalen Schuldenmachen ist es seit Jahrzehnten umgekehrt: Wenn die Rathäuser gegenüber Bürgern, Medien und Stadtrat Rechenschaft über die eigene Kasse ablegten, blickten sie stets in die Sonne - und die Zuhörer mit.

Schattenspiel unter Fußgängern: So verhält es sich auch mit den Haushalten deutscher Kommunen. Millionenschulden schlummern in ausgelagerten Eigenbetrieben.

Schattenspiel unter Fußgängern: So verhält es sich auch mit den Haushalten deutscher Kommunen. Millionenschulden schlummern in ausgelagerten Eigenbetrieben.

Foto: dpa

Wer traut sich schon zu, einen kommunalen Haushalt auf mehreren 100 Seiten zu verstehen? Wer kann ihn gar hinterfragen? Das Labyrinth ist für Nicht-Betriebswirte wie geschaffen, gleich wieder das Weite zu suchen - und den Vortragenden zu glauben. Die Finanz-News aus den Rathäusern sind eh schlimm genug. Schulden über Schulden. Und sie wachsen immer weiter.

Eine verständliche Größe sind die Schulden pro Einwohner. Sie betrugen für Bonn nach dem Statistischen Landesdienst NRW Ende 2010 3481 Euro. Drei Jahre zuvor (2007) soll dieser Wert bei 4861 Euro gelegen haben. Demnach hätte Bonn seine Schulden in drei Jahren kräftig abgebaut, was aber kaum zutreffen kann, denn die Warnungen des Kämmerers klingen immer dramatischer.

Tatsächlich liegt zwischen "3481" (2010) und "4861" (2007) ein Schatten, ein Schattenhaushalt. Die Bertelsmann-Stiftung hatte sich 2008 aufgemacht, die Finanzen von Gemeinden und Städten in NRW erstmals wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Das Konkrete erledigte Professor Martin Junkernheinrich von der Technischen Universität (TU) Kaiserslautern, die einen Lehrstuhl für Stadt-, Regional- und Umweltökonomie beherbergt. Ein Stab von Mitarbeitern sezierte regelrechte Zahlengebirge - und herauskam die Studie "Kommunaler Finanz- und Schuldenreport NRW". Aus dem stammt auch die Pro-Kopf-Verschuldungszahl "4861 Euro" für Bonn (2007).

Nachgefragt bei Junkernheinrichs Mitarbeiter Florian Boettcher, der gerade über die "Ursachen kommunaler Haushaltsdefizite und Verschuldung" promoviert: Können Sie die Zahl erklären? "Wir haben damals tatsächlich alle Zahlen einer Kommune zusammengetragen, auch die der städtischen Beteiligungen." Während eine Kämmerei über den ureigensten Kernhaushalt einer Stadt und damit nicht über den Gesamthaushalt berichtet, haben die Kaiserslauterner Forscher auch alle kommunalen Unternehmen, eigenbetriebsähnliche Einrichtungen oder Beteiligungen einbezogen.

Sie werden mit dem Fachterminus-Kürzel FEU bezeichnet. Da die FEUs teilweise auch erhebliche Schulden angehäuft haben, für die eine Kommune haftet, die aber in keinem städtischen Schuldenreport auftauchen, liegt die wahre Verschuldung einer Gemeinde oder Stadt stets höher als die von einem Rathaus gemeldete. Der Laie lernt: Es gibt Schulden und Gesamtschulden, den Haushalt einer Kommune und den des "Konzerns Kommune".

Nicht nur das: Bundesweit übertreffen die Schulden (s. Grafik unten) der kommunalen Nebenhaushalte sogar die der Kernhaushalte. Die Lage ist, insbesondere in NRW, schlimmer als aus Rathäusern gemeldet. Beispiel Dortmund: Die Stadt hat offiziell rund 2,4 Milliarden Schulden plus etwa 2,2 Milliarden in Schattenhaushalten verbuddelte. Das hochverschuldete Duisburg hat sogar rund 50 Beteiligungsgesellschaften. Doch ob ein kommunaler Haushalt von der Kommunalaufsicht genehmigt wird, orientiert sich ausschließlich am Kernhaushalt.

Boettcher sagt: "Es gibt Kommunen, wo wir vermuten, dass die Flucht aus den Kernhaushalten dazu dient, vor Bürgern, Medien oder der Kommunalaufsicht etwas zu verstecken." Etwas: Das sind Schulden. FEUs bieten die Möglichkeit, gesetzliche Verschuldungsgrenzen (s. Folge 1 der GA-Haushaltsserie) zu umgehen. FEUs verführen zudem dazu, sich etwas zu leisten, was man sich schon lange nicht mehr leisten kann. Etwa ein Museum oder ein Stadion. Nach GA-Informationen weiß auch das NRW-Innenministerium von den Kunstgriffen, kommunale Schulden unsichtbar zu machen. Intern spricht man von einer "Partisanen-Strategie".

FEUs dienen aber auch noch anderen Interessen. Boettchers Chef, Professor Junkernheinrich, sagt in dem ARD-Report "Meisterhaft versteckt": "Wenn man viele Gesellschaften hat, braucht man auch viele Geschäftsführer. Da sind viele attraktive Posten zu besetzen." Eine Anspielung darauf, dass FEUs auch eine Art Versorgungswerk für Politiker sind - "oder gutbezahlte Posten für alle, die es gut mit einer Stadt meinen", sagt Eberhard Kanski, Vorstandsmitglied im Bund der Steuerzahler. Was in "NRW abläuft, wäre zum Beispiel in Baden-Württemberg gar nicht möglich". Die NRW-Kommunalaufsicht bezeichnet Volkswirt Kanski als "Kommunalwegsicht".

Man kann den Kommunaldurchleuchter Boettcher alles fragen. Er lässt einmal kurz die Festplatte rotieren: Die Gesamtschulden Bonns betrugen Ende 2009 pro Einwohner 5350 Euro. Das sind 1869 Euro mehr als die offizielle NRW-Statistik für Bonn ein Jahr später ausweist. Das würde bedeuten, dass die Stadt - rechnerisch - bei 320 000 Einwohnern in ihrem Beteiligungslabyrinth fast 600 Millionen Euro Schulden aufgetürmt hat.

Boettcher sagt: "Generell besteht das Problem und insbesondere in NRW, dass die Finanzstatistik immer der Zeit hinterherhinkt." Die macht jedoch das Presseamt der Stadt Bonn wieder wett. Eine GA-Anfrage wird postum beantwortet und fernab des Eindrucks, als wollte die Stadt etwas verstecken.

Danach beträgt die Verschuldung Bonns aktuell rund 1,471 Milliarden Euro, während der Kämmerer für Ende 2012 kürzlich noch 1,46 Milliarden annahm. Es sind also schon elf Millionen mehr. Allein die Verschuldung des Kernhaushalts rast somit weiter davon - trotz historischer Niedrigzinsphase. Für drei ihrer FEU-Beziehungen meldet die Stadt auch Schulden: Vebowag etwa 162 Millionen, Stadtwerke Bonn rund 213 Millionen, Seniorenzentren 7 Millionen. Das ist dann - immerhin - mehr als die halbe Wahrheit.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Bundespräsident Karl Carstens überreicht im Juli
Jeder zweite Krebs ist heilbar
50 Jahre Deutsche KrebshilfeJeder zweite Krebs ist heilbar
Zum Thema
Aus dem Ressort