Schüsse auf Flüchtling in Bonn Ein Drama, das sich vor aller Augen abspielt

BONN · Sonntagmittag kurz nach zwölf Uhr. Zwei junge Männer sitzen auf einer Bank im Schatten eines Baumes vor dem Paulusheim in Endenich und unterhalten sich. Nichts erinnert mehr an den mehrstündigen Großeinsatz der Polizei in der Flüchtlingsunterkunft am Samstagnachmittag, der bis abends dauerte.

In dem Haus wohnen etwa 180 Personen. Ein 23-jähriger Flüchtling aus Guinea hatte einen 27-jährigen Mitbewohner, der ebenfalls aus dem westafrikanischen Land stammt, mit Messern verletzt und war später von Polizisten auf der Wiese vor dem Heim niedergeschossen worden. Der 23-Jährige wurde ins Krankenhaus gebracht und war laut Polizei am Sonntag in einem stabilen Zustand.

Wie die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Monika Volkhausen, erklärte, wird nun geprüft, "ob der Schusswaffengebrauch der Beamten gerechtfertigt war" oder ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden muss.

Ihren Angaben zufolge hatte die Polizei vor den Schüssen vergeblich versucht, den 23-Jährigen zu beruhigen, nachdem er mit den beiden Messern in den Händen aus dem zweiten Stock gesprungen und auf sie losgegangen war.

Schüsse auf Flüchtling in Bonn
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Nachdem der 23-Jährige auch durch den Einsatz von Pfefferspray nicht habe unter Kontrolle gebracht werden können, hätten die Polizisten ihre Dienstwaffen benutzt. Wie viele Schüsse gefallen seien und wie viele Beamte geschossen hätten, sei jetzt Gegenstand der Ermittlungen, so Volkhausen.

"Mann hat Messer. Ich weglaufen"

Am Sonntag spielen Kinder auf der Wiese. Ein kleines Mädchen, fünf oder sechs Jahre alt, läuft auf Diemory Kouyate zu: "Mann hat Messer. Ich weglaufen", sagt es in gebrochenem Deutsch. Dann rennt die Kleine zu den anderen Kindern. Kouyate ist Vorsitzender des Bonner Guinea-Vereins "AREGUIB" und will den vom Täter Verletzten besuchen.

Seit zehn Jahren lebt der Vereinsvorsitzende in Deutschland. Über das Internet hat er von dem Drama erfahren, das sich vor den Augen vieler Heimbewohner und Besucher abspielte. Ein Teil von ihnen feierte gerade mit Bonner Studenten ein Sommerfest im Garten des Paulusheims.

"Ich kenne den Täter nicht", sagt Kouyate. Er habe aber erfahren, dass der Mann einen Angehörigen in Berlin habe. Den wolle er verständigen. Im Foyer des Heims trifft Kouyate den Verletzten. Der Mann hat einen Finger verbunden, auf dem rechten Unterarm klebt ein Pflaster.

"Das ist passiert, als ich mich gewehrt habe", erklärt er auf Französisch. Der 27-Jährige hatte sich zum Zeitpunkt der Attacke mit Carina, einer 18-jährigen Studentin, auf seinem Zimmer im dritten Stock des Heims getroffen, um mit ihr über den 23-Jährigen zu sprechen, der auf der zweiten Etage wohnt.

Carina arbeitet in der studentischen Flüchtlingsinitiative mit, die das Sommerfest organisiert hat, und engagiert sich im Endenicher ökumenischen Arbeitskreis Flüchtlinge. Sie ist im Paulusheim für viele Bewohner zur wichtigen Ansprechpartnerin geworden.

Er schrie immer wieder "ich will Blut trinken"

Der Verletzte wirkt gefasst. Seit mehreren Wochen, erzählt er, sei ihm sein 23-jähriger Landsmann aufgefallen. In der Nacht zu Samstag habe der ihn sogar ständig aus dem Schlaf gerissen. Kaum saß er mit Carina in seinem Zimmer, klopfte es an der Tür. Als er öffnete, so berichtet er, stand der 23-Jährige vor ihm, fuchtelte mit zwei Messern vor seinem Gesicht und schrie immer wieder: "Ich will Blut trinken." Einen Streit, von dem später im Polizeibericht die Rede ist, habe es nicht gegeben.

Das bestätigt auch Carina, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Sie hatte zuvor bereits von der Deutschlehrerin des Täters erfahren, dass der Mann offensichtlich unter psychischen Störungen leidet. "Wir haben wohl die Situation unterschätzt", sagt die Studentin. "Es ging alles so schnell."

Der 27-Jährige und dessen Zimmergenosse, ein Mann aus Somalia, konnten den Täter abwehren und sich im Badezimmer in Sicherheit bringen. Carina lief in der Zeit nach unten und alarmierte die Polizei. "Ich habe auch meine Kommilitonen im Garten angerufen und sie über die Geschehnisse im Haus informiert", sagt sie.

"Wir haben erst einmal weiter Fußball draußen mit den Jugendlichen gespielt", sagt Juliane Göbel, "es hieß, wir sollten dort bleiben." Die studierte Sozialarbeiterin absolviert zurzeit im Auftrag der evangelischen Trinitatiskirche einen Teil ihres Bundesfreiwilligendienstes im Paulusheim.

Doch wenig später, so berichten sie und ihre Schwester Charlotte, die ebenfalls beim Sommerfest mithalf, sei ihnen und etwa 20 Flüchtlingen im Garten doch mulmig geworden. Sie hätten die inzwischen ebenfalls am Einsatzort eingetroffene Feuerwehr gebeten, das Gelände verlassen zu dürfen, und wurden von vier Feuerwehrleuten auf die Sebastianstraße geführt.

In der Zeit waren auch Spezialeinsatzkräfte der Polizei eingetroffen. Sie sperrten die Straße ab. "Ich bin dann noch einmal mit Polizisten nach oben gegangen. Weil ich Französisch kann, hatte man mich gebeten, mit dem Mann noch mal zu reden", erzählt Carina.

Hatte sie denn keine Angst? "Nein, ich hatte da schon gehört, dass sich der Mann in einem Raum befand, den die Polizei von außen verbarrikadiert hatte", sagt sie. Sie bekam dann mit, dass der 23-Jährige aus dem Fenster springen wollte. "Da waren noch zwei andere Landsmänner von ihm, die versuchten, ihn zu beruhigen", sagt die 18-Jährige. Vergeblich.

"Es haben doch viele Flüchtlinge psychische Probleme"

Was dann geschah, habe sie kaum noch mitbekommen. "Ich habe nur noch gesehen, wie er verletzt auf der Wiese zusammenbrach", sagt die Studentin. Sie ist froh, dass die Polizei später Notfallseelsorger ins Haus geschickt hat. "Das Drama haben ja fast alle Bewohner, auch die Kinder, mitbekommen."

Für Carina, die den Täter als freundlich und schüchtern beschreibt, ist klar: "Es müssten viel mehr Sozialarbeiter und Psychologen eingesetzt werden. Es haben doch viele Flüchtlinge psychische Probleme." Das bestätigt Helena Nguyen. Die 52-Jährige ist als ehrenamtliche Helferin fast täglich im Paulusheim. "Es gibt einige hier im Haus, die dringend psychologische Unterstützung bräuchten", weiß sie. Aber es fehle an geschulten Ansprechpartnern.

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