Interview mit Sozialpädagogen Claus Fussek "Ein Pflegeheim ohne Mängel kann es nicht geben"

Oftmals ist von einem Pflegenotstand die Rede. Doch wer ist eigentlich schuld an der Misere in der Pflege? Sozialpädagoge Claus Fussek hofft, dass Pflegekräfte selbst stärker den Finger in die Wunde legen. Mit ihm sprachen Lisa Inhoffen und Richard Bongartz.

Wissen Sie, ob Heime öfter wegen Missstand in der Pflege oder wegen Todesfällen geschlossen werden?
Claus Fussek: Das ist wohl eher die Ausnahme. Viele Altenpflegeheimleiter beklagen, sie würden besser kontrolliert als Atomkraftwerke. Wenn es in Atomkraftwerken aber gravierende Mängel gibt, werden sie sofort geschlossen. Bei einem Pflegeheim ist das schwieriger. Wohin sollen die Bewohner denn hin angesichts des Platzmangels?

Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen für den viel zitierten Pflegenotstand im Zusammenhang mit den Vorfällen im Haus Dottendorf?
Fussek: Das sind doch die Probleme, die wir seit Jahrzehnten diskutieren. Sie sind hinlänglich bekannt. Zu nennen ist da der ständige Personalmangel, weil Fachkräfte Mangelware sind, und der hohe Zeitdruck, dem die Pflegekräfte ausgesetzt sind. Aber der Fisch stinkt meistens vom Kopf. Wenn die Leitung nicht führen kann, dann funktioniert oftmals das ganze Haus nicht. Aber Missstände entwickeln sich nicht von heute auf morgen. Das ist ein langer Prozess und kein Tsunami. Das Hauptproblem ist doch, dass in den Heimen, in denen vieles schief läuft, das Frühwarnsystem versagt hat. Übrigens: Ungeklärte Todesfälle gibt es in Altenpflegeheime leider öfters. Das ist offensichtlich ein rechtsfreier Raum. So etwas würde in in keinem Gefängnis oder in einem Tierpark zu Recht geduldet.

Wie sehen Sie die Rolle der Pflegekräfte?
Fussek: Ich begreife sie nicht. Sie sehen sich meistens als Opfer des Systems. Ich habe mehr als 50 000 Beschwerden auf meinem Schreib-tisch, die meisten stammen von Pflegekräften. Aber keiner will öffentlich den Finger in die Wunde legen. Sie schweigen. Doch wer schweigt, stimmt zu und macht sich mit schuldig. Sie müssten sich vielmehr mit den Bewohnern, den Angehörigen und den Ärzten solidarisieren und die Probleme öffentlich machen. Es sind so viele, sie hätten doch eine Macht. Aber nur etwa 15 Prozent sind in einer Gewerkschaft organisiert, bei der Müllabfuhr sind es meines Wissens nach gut 80 Prozent. Pflegekräfte haben eine Verantwortung für die alten, kranken und sterbenden Menschen. Ich weiß nicht, warum sie trotzdem mitmachen, schweigen und sich nicht zusammenschließen. Angst um den Arbeitsplatz kann es nicht sein. Es gibt so wenige gute Fachkräfte, sie können sich den Arbeitsplatz doch in aller Regel aussuchen. Deshalb glaube ich nicht, dass es in erster Linie das Geld ist, um das es dem Pflegepersonal geht. Sondern es sind vor allem die Arbeitsbedingungen.

Was können Angehörige tun?
Fussek: Angehörige können nicht nur etwas tun, sie müssen etwas tun. Aber ich erlebe eine Ohnmacht bei den Angehörigen, die ich auch nicht nachvollziehen kann. Sie haben vielleicht die Sorge, ihr Angehöriger im Heim könnte Nachteile haben, wenn sie etwas sagen. Aber sie könnten sich mit den Pflegern zusammentun und sagen, so geht das nicht mehr weiter. Das muss rechtzeitig geschehen. Wir brauchen, das sage ich immer wieder, ein Frühwarnsystem. Ich möchte auch klarstellen: Es geht mir nicht um einfache Schuldzuweisungen. Wir reden aber über alte, hilflose, besonders schutzbedürftige, sterbende Menschen. Das geht jeden von uns an.

Gibt es qualitative Unterschiede zwischen öffentlich und privat geführten Häusern?
Fussek: Nein, jedes Haus, ja jede Station ist unterschiedlich. Man sollte sich verabschieden von der Vorstellung, das eine ist ein gutes und das andere ist ein schlechtes Haus. Übrigens, Noten über die Pflegeheime sagen rein gar nichts. Und das gehört auch zur unbequemen Wahrheit: Ein Pflegeheim ohne Mängel kann es nicht geben. Das gilt leider auch für Krankenhäuser.

Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, um den Pflegenotstand in den Seniorenheimen zu verbessern?
Fussek: Wie gesagt, wir brauchen ein Frühwarnsystem, an dem sich alle beteiligen müssen. Man muss den Pflegekräften sagen, dokumentiert doch einfach ehrlich, was ihr tatsächlich leisten könnt. Dann haben wir die Defizite endlich schwarz auf weiß. Aber viele Pflegekräfte haben mehr Angst vor den Kollegen als vor der Staatsanwaltschaft, wenn sie etwas laut sagen. Das muss endlich aufhören.

Zur Person

Der Sozialpädagoge Claus Fussek gilt als bekanntester deutscher Pflegekritiker. Der 62-Jährige greift immer wieder schlimme Zustände in ambulanten und stationären Einrichtungen auf und macht sie öffentlich. Er entwickelt aber auch Strategien, wie sich die Missstände abstellen lassen. Fussek ist verheiratet und hat zwei Kinder, die Familie lebt in München. Hauptberuflich ist er seit 1978 im ambulanten Beratungs- und Pflegedienst Vereinigung Integrationsförderung tätig und unterstützt sozial Benachteiligte.

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