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Interview mit Bonner Chefarzt Tim Flasbeck „Katastrophen passieren sonst woanders“
Bonn · Der Chefarzt der Notfallaufnahme des Bonner Malteser Krankenhauses, Tim Flasbeck, fordert harte Strafen für diejenigen, die sich in der Corona-Krise nicht an Regeln halten. Außerdem spricht er sich im GA-Interview für eine Mundschutz-Pflicht für alle aus.
Ohne Mundschutz geht der Notfallmediziner Tim Flasbeck nicht mehr in den Supermarkt. Aber nicht nur, weil er sich als Chefarzt zum Wohle seiner Patienten vor dem Coronavirus schützen will, sondern vor allem um andere nicht zu infizieren. Im GA-Interview sprach er darüber, wie derzeit die Lage auf seiner Intensivstation im Malteser Krankenhaus ist und welche Fehler Deutschland bei der Vorbereitung auf die Pandemie gemacht hat.
Tim Flasbeck: Im Moment versuche ich, mich sehr viel zu informieren. Unter anderem höre ich im Auto die Podcasts der Virologen Streeck, Kekulé und Drosten. Das sind Quellen, die sachlich sind und die ich wirklich nur empfehlen kann. Ich mache mir aber auch Sorgen darum, dass ich als Arzt, trotz aller Vorsicht, das Virus mit nach Hause bringen könnte. Zu meinen Eltern, die beide über 70 sind, oder zu meiner Frau und meinen drei Kindern.
Alte Menschen sind besonders gefährdet. Was passiert, wenn das Virus in die Altenheime kommt?
Flasbeck: Das ist ja leider schon passiert und wir konnten sehen, wie gefährlich das Virus für alte Menschen ist. Sie haben oft keine Reserven und sind häufig vorerkrankt. Es ist aktuell noch sehr schwierig, Einrichtungen wie Altenheime konsequent zu schützen, weil wir das Virus noch nicht zuverlässig erkennen. Das Spektrum an Symptomen reicht von Symptomlosigkeit bis weit über das Vollbild einer Atemwegserkrankung hinaus. Das haben wir so auch noch nicht gesehen. Zuverlässige Schnelltests, mit dem man erkrankte Mitarbeiter oder Besucher erkennen könnte, gibt es leider noch nicht.
Sollte jeder einen Mundschutz tragen, auch wenn er sich nicht krank fühlt?
Flasbeck: Ich bin kein Virologe, aber es scheint so zu sein, dass ein Mundschutz das Umfeld des Trägers und in einem gewissen Ausmaß auch den Träger selbst schützt. In dem Moment, in dem alle einen tragen, würde das also Sinn ergeben. Ob sich jemand krank fühlt oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Auch wenn man noch keine Symptome verspürt, kann man schon infektiös sein. Ich selbst trage einen Mundschutz, wo ich exponiert sein könnte, also im Supermarkt zum Beispiel. Für mich ist Covid kein Individualrisiko. Ich mache mein ganzes Leben Ausdauersport, rauche nicht und bin gesund. Trotzdem habe ich natürlich eine große Verantwortung gegenüber Menschen, die mit dem Virus vielleicht nicht klar kommen und die daran sterben könnten.
Guckt man Sie schief an, wenn Sie einen Mundschutz tragen?
Flasbeck: Ja. Man wird belächelt.
Heißt das im Umkehrschluss, dass wir den Ernst der Lage nicht begriffen haben?
Flasbeck: Doch. Aber wir sind es nicht gewohnt, einen Mundschutz zu tragen. Es sieht für uns komisch aus, und viele empfinden es bestimmt als eine Einschränkung der Freiheit, anders als in asiatischen Ländern. Es ist ein beklemmendes Gefühl. Es fällt schwer zu atmen, es fällt schwer zu sprechen. Ich glaube, wir müssen ihn erst akzeptieren lernen, die Verantwortung verstehen, die jeder hat und den Beitrag den jeder leisten kann.
Wie bringt man das einem unbelehrbaren Jugendlichen bei, der sich mit Freunden in der Rheinaue trifft? Mit Erklärvideos, wie Sie es gemacht haben?
Flasbeck: Wenn Menschen andere Menschen durch Fehlverhalten gefährden, muss man das bestrafen. Das machen wir ja in anderen Bereichen auch so. Aber so weit sind wir noch nicht. Ich finde Transparenz und konsequente Aufklärung gerade jetzt sehr wichtig, auch als Gegengewicht zu der Masse an Fakenews in den Medien. Ich glaube, dass die meisten Menschen bereit wären einen Mundschutz zu tragen und auch zukünftig Abstandsregeln einzuhalten, wenn sie verstehen und nachvollziehen können, dass uns das in dieser Krise wirklich helfen kann.
Und wenn wir das nicht hinbekommen, haben wir hier eine Katastrophe?
Flasbeck: Ich glaube schon, dass das passieren kann, auch wenn wir uns das nicht vorstellen wollen und können. Katastrophen passieren sonst woanders. Die aktuellen Maßnahmen dienen ja dazu, die Epidemie in Deutschland zeitlich in die Länge zu ziehen. Es sieht so aus, als bekämen wir das im Moment gut hin, aber das Virus breitet sich ohne Maßnahmen auch wieder blitzschnell im ganzen Land aus.
Wie gehen die Menschen in Entwicklungsländern wie Uganda, wo Sie ehrenamtlich arbeiten, mit dem Virus um?
Flasbeck: Die Lage in Uganda lässt mich oft nicht schlafen. Es gibt kein wirklich funktionierendes Gesundheitssystem, keine ausreichenden Krankenhauskapazitäten, kaum Beatmungsmöglichkeiten. In Kampala, der Hauptstadt, kann man nicht „social distancing“ einführen oder stündliches Händewaschen. Die Menschen leben zu Tausenden auf kleinster Fläche, teilweise zu acht in einer winzigen Wellblechhütte. Ich habe große Angst davor, dass sich das Virus dort ausbreitet.
In Bonn und im Rhein-Sieg-Kreis sprechen die Behörden schon jetzt von einer leichten Entwarnung.
Flasbeck: Das scheint so zu sein, aber das heißt ja nicht, dass wir die Grundlage geschaffen haben für ein normales Weiterleben. Wie es aussieht, werden wir so schnell keinen Impfstoff für alle haben und es gibt, soweit ich weiß, auch noch kein Medikament, das wirklich verheißungsvoll ist. Es geht nur über diszipliniertes Miteinander, so wie wir es gerade lernen. Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass aus der leichten Entwarnung kein „Endlich-überstanden-Gefühl“ resultiert, das uns die im Umgang mit Covid so wichtigen Verhaltensregeln wieder vergessen lässt.
Wie kommen wir da wieder raus?
Flasbeck: Der Lockdown war konsequent und richtig. Wir haben dadurch Zeit gewonnen. Jetzt müssen wir einen Weg finden, mit diesem Wissen aus dem Lockdown ein Löckchen-Down zu machen, mit klaren Regeln für alle, wie einer Mundschutzpflicht. Dabei muss der Schutz der Risikogruppen höchste Priorität haben. Wenn Baumärkte und Supermärkte während des Lockdowns geöffnet haben, warum geht das nicht auch mit Schuhgeschäften oder Modeboutiquen? Ich glaube, dass sich Nischen finden lassen, in denen man bis zur Entwicklung eines Medikaments oder eines Impfstoffs einigermaßen gut leben kann.
Nischen finden?
Flasbeck: Ja. Den Ansatz von Herrn Streeck, in Heinsberg eine ganze Kohorte zu untersuchen, finde ich ziemlich gut. Zu verstehen, wie lange das Virus auf Oberflächen überlebt, wie es sich überträgt und was es im Menschen anrichtet, um dann gezielt Maßnahmen daraus abzuleiten. Anstatt eine generelle Lösung zu etablieren, wie wir es gerade machen, können wir mit diesem Wissen vielleicht zeitnah selektiv bestimmte Dinge wieder zulassen, weil von ihnen keine Gefahr ausgeht. Viele Menschen haben existenzielle Ängste, solche Perspektiven empfinde ich daher momentan als großen Lichtblick.
Glauben Sie, Antikörpertests sind die Wunderwaffe im Kampf gegen Covid?
Flasbeck: Antikörpertests zeigen uns an, ob wir eine Infektion durchgemacht haben. Es ist für besonders exponierte Leute, zum Beispiel medizinisches Personal, wichtig zu wissen, ob man immun ist. Dieses Personal kann man dann gezielt ohne Risiko einsetzen. Was für uns im Moment viel wichtiger wäre, und auch für die Menschen in Entwicklungsländern, sind Antigentests. Dann können Sie das Virus anhand eines Farbumschlags innerhalb weniger Minuten nachweisen. Das wäre gigantisch, weil sie dann ein diagnostisches Mittel haben, das uns schnell entscheidungsfähig macht.
Mit den aktuellen Tests kann man demnach die Realität gar nicht richtig abbilden?
Flasbeck: Doch, ich glaube schon, dass wir in Deutschland sehr viel testen und das ist auch ganz wichtig, denn umso mehr getestet wird, desto näher kommen wir den wahren Fallzahlen und den wahren Sterblichkeiten. Ich meinte die Entscheidungsfähigkeit innerhalb der Krankenhäuser. Bis das Ergebnis eines Rachenabstrichs vorliegt, vergehen mitunter Tage.
Es gibt da auch noch die Diskussion um die Tracking-App.
Flasbeck: Ja, Herr Drosten hat in seinem Podcast zuletzt über eine Tracking-App berichtet, die in der Lage ist, uns zu informieren, wenn wir Kontakt mit einem Covid-Patienten hatten. Die App fordert die betroffene Person dann auch auf, sich für 14 Tage in Quarantäne zu begeben. Alles in wenigen Sekunden, wofür Ämter mehrere Mitarbeiter und etliche Stunden oder Tage benötigen. Vollkommen anonymisiert. Großartig!
Datenschützer finden das bedenklich.
Flasbeck: Ich kann die Einwände nicht verstehen. Die App kommuniziert nicht, dass man gerade neben einem Covid-Kranken steht, der als solcher dann auch erkennbar wird. Man wird darüber informiert, dass man Kontakt hatte. Mit wem genau, bleibt unklar. Besser so, als sich datengeschützt zu infizieren oder sogar zu sterben.
Sie haben vor ein paar Wochen gesagt, dass wir nicht vorbereitet waren. Halten Sie daran fest?
Flasbeck: Ja. Ich kann bis heute nicht nachvollziehen, dass Karneval stattgefunden hat. Ich kann die widersprüchlichen und zögerlichen Entscheidungen zu Massenveranstaltungen, Schluss von Kindergärten, Schulen und Grenzen nicht verstehen. In den ersten Wochen der Pandemie haben wir nachgearbeitet und keine Vorsorge getroffen. Einheitliche Regelungen haben gefehlt. Die Engpässe an Hygieneartikeln, wie Mundschutze, Kittel und Desinfektionsmittel sind für die Mitarbeiter der Krankenhäuser maximal beklemmend gewesen und sind es teilweise noch heute. Eine konsequente Aufklärung und Begleitung von oben hat gefehlt. Ich möchte aber auch all diese Entscheidungen nicht treffen wollen. Pandemie kann man nicht können, glaube ich. Daher finde ich Nachtreten auch ganz gefährlich. Das Ganze sollte uns aber eine Lehre sein. Auf Ebene der lokalen Behörden und der lokalen Krankenhäuser haben wir jedoch zügig eine gute Vorbereitung hinbekommen.
Dann gab es noch diesen Referentenentwurf zur Reform der Notfallversorgung, mit dem Kliniken zentralisiert werden sollten. Rettet uns, dass wir nun doch noch so viele Krankenhäuser haben?
Flasbeck: Das ist sicher ein wichtiger Aspekt und der macht uns auch sensibel dafür, dass dieses Todsparen in der Medizin der falsche Weg ist. Die Krankenhäuser sind alle auf Kante genäht, viele kurz vor der Insolvenz. Wir reden mehr über Zahlen und Verweilzeiten als über Patienten. Die Medizin wird immer weiter privatisiert, Gesundheit wird immer mehr zur Ware. Das muss aufhören. Wir werden sehen, ob Herr Spahn die durch die Krise entstehenden, massiven Verluste der Krankenhäuser auch wirklich ausgleicht. Aufgrund des von Ihnen angesprochenen Gesetzesentwurfs muss befürchtet werden, dass die Situation auch dazu genutzt werden könnte, Klinikschließungen zu forcieren.
Gibt es ein Gesundheitssystem, das für Sie ein Vorbild ist?
Flasbeck: Grundsätzlich sollte der Zugang zu einer medizinischen Versorgung für jeden selbstverständlich sein. Dass die USA Obamacare gekippt haben, ist für mich nicht nachvollziehbar. Vor sechs Wochen waren die Vorbilder noch Holland und Dänemark. Interessanterweise sind das Länder, die wir jetzt bei der Behandlung von Covid-Patienten unterstützen, weil sie selbst zu wenig Intensivbetten haben.
Aber wie verhindert man, dass ein Gesundheitssystem überbordend teuer wird?
Flasbeck: Die Frage kann ich nicht kompetent beantworten. Ich weiß aber, dass sich etwas ändern muss, weil sonst die Medizin bei uns immer weiter an Charme und Qualität verliert. Die Entwicklung hat längst begonnen. Anstatt dass wir die Arbeitsbedingungen wieder erträglich machen und dem Beruf Pflegekraft wieder die Aufmerksamkeit geben, die er verdient, suchen wir Pflegekräfte im Ausland und führen Pflegeuntergrenzen ein für Pflegekräfte, die wir nicht haben. Wir müssen wieder anfangen, die Leute für das zu bezahlen, was sie leisten und können. Ansonsten darf man sich nicht wundern, wenn die kompetenten Köpfe abwandern.