Stiftung Gemeindepsychatrie Unsichtbare Barrieren erschweren den Alltag mit psychischen Erkrankungen
Bonn · Eine Erkältung, ein gebrochenes Bein – die meisten Krankheiten sieht man den Leuten sofort an. Andere bleiben von außen unsichtbar. Deswegen treten für die Betroffenen immer wieder Barrieren auf. Die Stiftung Gemeindepsychatrie Bonn-Rhein-Sieg will helfen, diese zu überwinden.
Ein gebrochenes Bein landet im Gips. Bei einer Erkältung läuft die Nase. Aber nicht jede Krankheit ist nach außen sichtbar. „Du bist doch gar nicht krank“, müssen sich deshalb viele Menschen mit psychischer Erkrankung anhören. Vorurteile sind nur eine von vielen unsichtbaren Barrieren für Betroffene.
Angela Maria Tonner war Betriebswirtin. Dann wurde sie psychisch krank. Erst nahm nicht einmal sie selbst das wahr: „Ich kam souverän rüber, und niemand merkte mir die Krankheit an.“ Irgendwann waren die Panikattacken so stark, dass sie das Haus nicht mehr verließ. Die erste unsichtbare Barriere konnte nur sie selbst überwinden: „Ich musste das Stigma in meinem Kopf lösen.“ Tonner beschloss, zum Therapeuten zu gehen.
Unzählige Anrufe bei Therapeuten
Die nächste Barriere: Sie kontaktierte unzählige Therapeuten. Einen Therapieplatz zu bekommen, sei „ein immenser Kraftaufwand“ gewesen, und die Anrufe in Praxen zur zusätzlichen Belastung geworden: „Nach zwei Tagen am Telefon musste ich eine Pause machen“, berichtet Tonner, die schließlich doch noch einen Therapieplatz fand.
Zusätzlich ließ sie sich in einer Klinik behandeln. Und fand Unterstützung beim Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie, der sich seit 2018 als Stiftung Gemeindepsychiatrie Bonn-Rhein-Sieg für die Entstigmatisierung und Teilhabe von Menschen mit psychischer Erkrankung und deren Angehörige einsetzt.
Zugang zu Hilfe muss niederschwellig sein
Für viele psychisch Erkrankte sind alltägliche Aufgaben eine Hürde. Lothar Steffens arbeitet für den aufsuchenden Dienst der Gemeindepsychiatrie. „Dabei geht es um Lebenssicherung“, erklärt er seine Arbeit. Der Dienst sucht Menschen auf, die dringenden Bedarf haben, sich aus eigener Kraft aber keine Hilfe holen können. „Manche haben schon seit Monaten ihren Briefkasten nicht mehr geleert“, so Steffens.
Im Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist seit 2020 eine Eingliederungshilfe für psychisch Erkrankte festgelegt. Diese zu beantragen, sei aber mit viel Bürokratie verbunden, weiß Steffens. Dass psychische Erkrankungen nun im BTHG Beachtung finden, begrüßt er. Zu Eingliederung und Teilhabe könne es aber erst kommen, wenn der Zugang zu Hilfe niederschwellig wird.
Bürokratische Hürden erschweren den Wiedereinstieg
Unrealistisch sei zum Beispiel, dass eine Person mit Depressionen aufwendige Anträge ausfüllt. Bei vielen scheitere es dagegen schon an der Diagnose, wenn sie den Gang zum Therapeuten nicht schaffen. Mit der Änderung im BTHG geht die Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe auf den Landschaftsverband Rheinland (LVR) über.
Die Mitarbeiter der Stiftung Gemeindepsychiatrie bemerken, dass durch die veränderte Zuständigkeit mehr bürokratische bis hin zu unüberwindbaren Hürden auf Betroffene zukommen. Zuvor sei Hilfe auf kommunaler Ebene, auch mithilfe der Stadt Bonn, unmittelbarer und unbürokratischer möglich gewesen.
Arbeit ist ein wichtiger Faktor der Eingliederung. „Sie ist ein sinnstiftender Faktor und vermittelt den Betroffenen das für jede weitere Entwicklung so wichtige Selbstwertgefühl“, sagt Wolfgang Pütz. Er ist Geschäftsführer der Gemeindepsychiatrie und kennt die Barrieren rund um den Wiedereinstieg ins Berufsleben: Wenn Betroffene wieder arbeiten möchten, gelte es, zunächst eine unverbindliche Beratung zu bieten.
Vernetzen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
Viele fragen sich: „Bin ich dem Wiedereinstieg gewachsen?“ Am Arbeitsplatz entstehen Belastungen durch Geräusche oder intensive soziale Kontakte nach einer Zeit des Rückzugs. Deswegen sei es wichtig, Wiedereinsteigern Raum zu bieten.
Mit der Initiative bonn-rhein-sieg-fairbindet unterstütze die Stiftung deshalb Menschen mit psychischer Erkrankung. Das Netzwerk stellt Kontakte zwischen Arbeitgeber und potenziellen Arbeitnehmern her.
Der 27-jährige Lukas (Name geändert) hat aufgrund seiner Erkrankung einen Schwerbehindertenausweis. Die Gemeindepsychiatrie unterstützt ihn zurzeit bei der Suche nach einem Platz für sein Anerkennungsjahr als Heilerziehungspfleger.
Arbeitnehmer setzen den Fokus auf Defizite
Er gehe dabei transparent mit seiner Erkrankung um. Lukas sagt: „Die Leute sehen aber oft nur meinen Ausweis.“ Dieter Lee ist Sozialraummanager und unterstützt den jungen Mann. Lee weiß, dass nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in Hochschulen und Universitäten unsichtbare Barrieren auftreten.
Studierende mit psychischer Erkrankung haben die Möglichkeit, einen Nachteilsausgleich zu beantragen. Das sei aber viel zu wenig bekannt oder werde mit dem Argument „kann ja jeder sagen, dass er das braucht“ gar nicht als Option betrachtet. Auch Pütz wünscht sich eine Veränderung: Die Arbeitsplatzvermittlung müsse ressourcenorientiert ablaufen, statt sich auf Defizite der Bewerber zu konzentrieren.
„Früher habe ich funktioniert, heute lebe ich“
Auch, wenn die Suche nach dem Arbeitsplatz noch dauert, wagt Lukas den nächsten Schritt: Er möchte bei seinen Eltern ausziehen und in einer betreuten Wohngemeinschaft wohnen. So könne er durch den Austausch mit anderen Erkrankten mehr über sich selbst und seine Krankheit erfahren.
Tonner arbeitet wieder. Sie konnte viele unsichtbare Barrieren überwinden. „Früher habe ich funktioniert, heute lebe ich“, stellt sie fest. Dafür, dass auch andere Betroffene dasselbe sagen können, möchte sie weiter kämpfen.