Zeitzeugen Helga Große Drieling: "Wir konnten nur das nackte Leben retten"

Bonn · Sie bedauert, dass sie damals kein Tagebuch führen konnte: Helga Große Drieling war erst 12 Jahre alt und zu Kriegszeiten hatte sie auf der Flucht weder Papier noch Bleistift. Nach den Angriffen war sie über Prag nach Tschechien geflohen, und kehrte von dort später mit einem Pferdewagen zurück.

Den Generalanzeiger bezogen schon meine Eltern und Großeltern. Vor dem Krieg und auch während dieser Zeit musste man die Zeitung im Verlagsgebäude des GA in der Nähe des Bahnhofs, heute befindet sich dort der Busbahnhof, mittels eines Monatskärtchens abholen, wobei jedesmal ein Kästchen auf der Karte durchgestrichen wurde.

Anschließend wurden Besorgungen in der Stadt gemacht. Es war genau so, wie einige ältere Bürger es schon in Ihrer Zeitung beschrieben hatten: Sahnehörnchen bei Sahne-Schmitz am Dreieck, ein Gang durch die Geschäftsräume bei Tietz etc. Beim Tietz gab es jeden Monat eine bunte Kinderzeitschrift mit Namen „Dideldum“, auf die ich mich immer sehr freute.

Da ich als Kind oft bei meiner in der Koblenzerstraße wohnenden Oma zu Besuch war, wurden diese Gänge meistens zu Fuß erledigt. Manchmal fuhren wir auch mit der Straßenbahnlinie Nr. 3 (diese fuhr von Endenich quer durch die Stadt bis zur Gronau). An der Haltestelle Weberstraße – direkt vor unserer Wohnung, gegenüber dem Arndthaus - stiegen wir aus. Vom Balkon des 3. Stockes aus hatte man einen herrlichen Blick über das ganze Siebengebirge.

Spaziergänge an Sonn- und Feiertagen am Rhein entlang bis zur schönen alten Rheinbrücke, manchmal auch bis Beuel, bleiben mir heute noch in schöner Erinnerung.

Leider war diese geruhsame Zeit 1944 zu Ende. Ständige Luftangriffe, besonders auf Köln, ließen uns Schlimmes erahnen.

Mit meinen zwei Geschwistern erlebte ich am 18. Oktober den Luftangriff auf Bonn. Wir befanden uns noch mit unserer Oma im 3. Stockwerk, als die ersten Bomben einschlugen. Wie durch ein Wunder erreichten wir zwischen einstürzenden Fenstern und Treppengeländern noch den zum Luftschutzraum ausgebauten Gewölbekeller des Hauses in dem sich bereits alle Hausbewohner des Hauses befanden.

Es waren bange Stunden, die wir dort erlebten. Das donnernde Geräusch der einschlagenden Bomben verfolgt mich heute noch.

Als die Entwarnung kam, konnten wir den Keller verlassen, jedoch nicht zu Straßenseite hin. Die gesamte Koblenzerstraße stand in Flammen und wir konnten nur das nackte Leben retten, indem wir durch die hinteren Gärten und über hohe Gartenmauern kletternd endlich die Lennéstraße erreichten.

Da die Fliegeralarme ständig zunahmen, brachte meine Oma uns in den Bahnhofsbunker

Da unsere Tante in der Herwarthstraße wohnte, begaben wir uns dorthin und fanden bei ihr Unterschlupf.

Da die Fliegeralarme ständig zunahmen, brachte meine Oma uns, d.h. meine beiden Geschwister und mich, in den nahegelegenen Bahnhofsbunker, in dem wir einige Wochen verbrachten. Wir wagten uns in der ganzen Zeit nicht aus dem Bunker heraus. Unsere Oma und die Tante versorgten uns, so gut es ging, mit Lebensmitteln, Kleidern und Decken.

Meine Eltern und meine beiden jüngsten Geschwister lebte zu der Zeit in Oberschlesien. Nachdem meine Mutter von dem Angriff auf Bonn erfuhr, machte sie sich auf den Weg nach Bonn, um uns zu suchen. Aufgrund von Hinweisen, die sie an der Hausruine in der Koblenzerstraße fand, erfuhr sie schließlich, dass wir uns im Bahnhofsbunker befanden.

Meine Mutter entschloss sich, uns Kinder wieder nach Schlesien mitzunehmen. Dort angekommen ereilte uns am 18. Dezember 1944 das gleiche Schicksal wie in Bonn. Das einzige Haus in Otmuth/Schlesien, in dem meine Familie wohnte, wurde bei einem Angriff von amerikanischen Fliegerbomben getroffen. Das Haus war halb unterkellert und wir suchten dort Schutz. Durch eine Bombe, die im Vorgarten des Hauses einschlug, stürzte die nicht unterkellerte Seite des Haus völlig ein. Die Kellerwand, an der wir Schutz gesucht hatten, blieb wie durch ein Wunder stehen und wir blieben fast unverletzt. Nach geraumer Zeit wurden wir durch Nachbarn aus dem Keller befreit.

Mit nur wenigen Habseligkeiten, die meine Mutter aus der Hausruine bergen konnte, standen wir wieder auf der Straße. Eine mitleidige Familie nahm uns auf und wir verbrachten zusammen mit dieser Familie das Weihnachtsfest.

Mitte Januar hörten wir das Kanonendonnern der vorrückenden Russen. Es wurde ein Flüchtlingszug bereitgestellt und unsere Odyssee nach Westen begann. Meine Mutter mit 5 Kindern und einem Hund begann eine abenteuerliche Flucht. Zunächst ging es mit dem Zug nach Niederschlesien wo wir bei einer Familie einige Wochen verbringen konnten. Da die Front näherrückte, mussten wird weiter.

"Wir machten uns also mit drei Frauen, 10 Kindern und vier Pferden auf den Weg"

Wir konnten mit einem Zug nach Prag und weiter in den Westen der Tschechei gelangen. Ein Anschlusszug, den wir in Prag verpasst hatten, wurde, wie wir später erfuhren, unterweg bombadiert und fast alle Passagiere kamen dabei um. In der Tschechei (Taus, jetzt: Domažlice) angekommen, wurden wir auf die verschiedenen Dörfer verteilt, wo auch wir in einer Schule ein Strohlager erhielten. Ca. 3 Monate verbrachten wir in dieser Schule. Ende April 1944, als unsere Sicherheit in dem Dorf nicht mehr gewährleistet war, sammelte uns die SS mit einem Bus ein, der uns ins Sudetenland brachte und in Bischofteinitz ebenfalls in einer Schule unterbrachte. Kurze Zeit später eroberten die Amerikaner die Stadt.

Meine Mutter hatte nur noch den Wunsch, irgendwie in unsere Heimat nach Bonn zu gelangen. Sie organisierte erfolgreich für uns und zwei Flüchtlingsfrauen aus Hagen die „Heimreise“. Ein Offizier der amerikanischen Streitkräfte erlaubte ihr, sich mit zwei Pferdewagen und Proviant aus den Restbeständen der geschlagenen deutschen Armee auf den Weg nach dem Westen zu machen. Dieser Offizier stellte ihr auch einen „Passierschein“ aus, der uns auf der Reise sehr hilfreich war. Wir machten uns also mit drei Frauen, 10 Kindern und vier Pferden auf den Weg.

Unterwegs konnten wir noch zwei junge deutsche Soldaten mitnehmen, die wir im Pferdewagen unter Decken versteckten. Einer von ihnen war erst 17 Jahre alt. Sie wurden glücklicherweise nicht von den amerikanischen Soldaten, die auf der Suche nach Wehrmachtsangehörigen waren, entdeckt.

Wie wir die mehr als 6-wöchige „Reise“ bei gutem und schlechten Wetter durchstehen konnten, kann ich bis heute noch nicht fassen. Abends suchten wir jeweils den Bürgermeister einer Ortschaft auf und erhielten auch immer irgendwie ein Quartier, entweder bei mehr oder weniger hilfsbereiten Dorfbewohnern oder manchmal auch nur in einer Scheune. In Siegen trennten sich die Familien. Unsere Familie fuhr mit einem verbliebenen Pferdewagen dem Rhein entgegen. Ende Juni konnten über eine Pontonbrücke endlich (Ende Juni) die Stadt Bonn erreichen! Wir fuhren über die völlig zerstörte Koblenzerstraße bis ins Elternhaus meiner Mutter nach Roisdorf.

Schade, dass ich damals kein Tagebuch führen konnte: Ich war erst 12 Jahre als und es gab weder Papier noch Bleistift.

Die Ereignisse aus dieser Zeit sind mir aber noch immer in Erinnerung und ich werde sie niemals vergessen können. Wir hatten aber das große Glück, unsere Heimat wiederzusehen, was vielen anderen verwehrt war.

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