Obdachlosigkeit in Bonn Hoffen auf einen Neuanfang

BONN · Die Habseligkeiten unter der Brücke waren alles, was Ralf (Namen geändert) von einem Leben als vierfacher Familienvater und Hausmeister blieb. Ein Stadtwerke-Mitarbeiter versucht, dem Obdachlosen bei der Rückkehr in ein geordnetes Leben zu helfen.

Es war ein lauer Abend im Spätsommer, als Dirk Scharfen (42) bei einem Bekannten der ungewöhnlichen Art vorbeischaute. Kurz vor seiner Nachtschicht fuhr der Verkehrsmeister der Stadtwerke Bonn zu Ralf (Name geändert).

Der 38-Jährige hatte sich unter der Kennedybrücke häuslich eingerichtet. Wenn man das so nennen kann. Sein Hausstand passte in zwei Einkaufswagen und eine Kiste. Mitten zwischen Tüten, Taschen und Hausrat hockte Ralf – sonnengegerbtes Gesicht, Bundeswehrmütze, Bundeswehrhose, orangefarbenes T-Shirt und Weste – und freute sich über den Besuch. Scharfens kümmert sich um den Obdachlosen. Es hat ihn beeindruckt, von Ralf zu hören, wie schnell ein Mensch seinen Halt verlieren kann. „Und trotzdem“, sagte er bewundernd, „glaubt Ralf weiter an sich.“

Vierfacher Familienvater und Hausmeister

Die Habseligkeiten unter der Brücke waren alles, was von einem Leben als vierfacher Familienvater und Hausmeister in Königswinter, als Ehrenamtlicher bei einer Feuerwehr im Rechtsrheinischen und dem Rettungsdienst in Hennef geblieben ist. Seit dem Frühjahr ist der 38-Jährige „auf Rolle“, pendelt zwischen Bonn und Beuel, wo er geboren wurde. Oft dabei: seine Lebensgefährtin Bärbel (Name geändert).

Dafür, dass Ralfs Leben aus dem Ruder lief, macht er unglückliche Umstände verantwortlich. Eine Zäsur war für ihn, „als mich 2009 meine damalige Verlobte mit drei Kindern verlassen hat“. Eines der Kinder war ein gemeinsames Kind, wie er sagte, „drei weitere habe ich mit drei anderen Frauen“.

Seine jüngste Tochter ist zweieinhalb, mit ihrer Mutter Bärbel führt er seit drei Jahren eine Beziehung. Allerdings müssen beide ohne die Tochter leben: Nach dem Entzug des Sorgerechtes lebt die Kleine bei Pflegeeltern. „Ihr geht es gut“, sagte Bärbel dem GA. Vermisst Ralf die Kinder? „Mit Dreien hab ich regelmäßig Kontakt, etwa per Whatsapp.“

Weil 2009 kein Geld mehr da gewesen sei, „konnte ich meine Steuerschulden nicht begleichen“. Die Lage verschlimmerte sich, als er seinen Vater nach einer Zwangsversteigerung bei sich aufnahm. Das Verhältnis ist zerrüttet. „Er hatte mich schon als Kind mit der Reitgerte geschlagen.“ Gewalt in irgendeiner Form taucht immer mal wieder in Ralfs Erzählungen auf, wenngleich er betont, ein friedlicher und hilfsbereiter Mensch zu sein. „Feuerwehrmann eben“, schmunzelte er.

"Stress" in der Obachloseneinrichtung

Trotzdem landete der 38-Jährige nach einigen Umwegen in den Obdachloseneinrichtungen des Katholischen Vereins für soziale Dienste im Rhein-Sieg-Kreis. Dann gab „es dort Stress“. Allerdings, so ist aus der Hilfsorganisation zu hören, gilt Ralf als schwierig. Wahrscheinlich ein Grund, warum er fortan auf der Straße lebte. Dabei zog es ihn in seine Beueler Heimat. Doch da wollte man ihn nicht, sagt Ralf, weshalb er mit seinem Einkaufswagen über die Kennedybrücke nach Bonn weiterzog.

Auf der Suche nach Schlafstätten zum Nulltarif machte er im Frühjahr Station nahe der SWB-Leitstelle an der Thomas-Mann-Straße. Dort wurde Dirk Scharfen auf ihn aufmerksam. Der drahtige Marathonläufer aus Kommern, der als Krisenmanager etwa nach Unfällen von Bussen oder Bahnen über viel Erfahrung verfügt, hatte schon öfter mit Obdachlosen zu tun.

So muss er immer wieder Schlafende aus Bahntunneln „hinauskomplimentieren“. Mit Ralf aber entwickelte sich etwas Besonderes. Vor allem, weil die ersten Eindrücke anders waren. „Ralf hat spontan einem Kollegen bei der Unfallaufnahme geholfen“, erinnerte sich Scharfen. Auch Ralfs Freundlichkeit, „die teils witzigen Unterhaltungen“, nahmen ihn ein. „Ich fühle mich ein wenig verantwortlich für ihn.“

Scharfen versucht, beim Neubeginn eines geordneten Lebens zu helfen. Etwas, das Ralf „mit Macht will“, wie er sagte. Allerdings sieht er sich in einem Teufelskreislauf, bekommt keine Wohnung, weil die Arbeit fehlt – und umgekehrt. Mit 404 Euro „Hartz IV“ sind keine großen Sprünge drin. Er durchstöbere jeden Tag auf seinem Handy das Internet nach Aushilfsjobs. Die Bonner Obdachlosenunterkünfte sind für ihn keine Alternative: „Zu viele Junkies, zu viel Gewalt, zu viel Klauerei.“ Bei den Heimbetreibern sieht man das anders.

Ein Leben unter der Kennedybrücke

Im Sommer richtete sich Ralf unter der Kennedybrücke ein. „Ein Polizist hatte mir den Tipp gegeben“, berichtete er stolz. Auch das gehört zu seinem alten Leben: Ralf kennt viele Leute bei Behörden, Polizei und Feuerwehr. Unter der Brücke stand er morgens um 6 Uhr auf, um das Rheinufer von Müll zu reinigen. Ihn störte die Unordnung nahe seines Schlafplatzes. Wildpinkler vertrieb er, seine Notunterkunft kehrte er regelmäßig, mit einem „von Bonnorange geschenkten Besen“. Nur die Ratten ließen sich nicht verscheuchen.

Feuerwehrleute kamen vom unweit gelegenen Schiffsanleger der Bonner Feuerwehr und schenkten ihm ausrangierte Dienststiefel. Geschäftsleute in der Umgebung halfen ebenfalls: „In einer Shisha-Bar darf ich mein Handy aufladen“, erzählte Ralf. Sogar Internetzugang hatte er unter der Brücke – dank eines unverschlüsselten WLAN-Anschlusses. Selbst ein herrenloses Dixi-Klo stand genau an der Brücke. Allein eine Waschgelegenheit zu finden, war ein Problem.

Und dann ist da noch der Alkohol. „Ja, ich trinke“, sagte er. „Ich brauche es zur Beruhigung. Aber nie so, dass ich die Kontrolle verliere.“ Er zeigte auf ein großes Glas mit einem braunen Inhalt an seiner Schlafstatt: „Immer nur Bier und Cola gemischt.“ Scharfen bestätigte: „Ich habe ihn noch nie richtig betrunken und randalierend erlebt.“

"Die meisten geben auf - ich nicht"

Könnte er ganz aufhören? „Ich glaube schon“, zeigte sich Ralf zuversichtlich. Doch Bärbel fehlte der Glaube. Auch, was ihre Zukunft angeht: „Es ist schwer, das alles so zu ertragen“, sagte sie bewegt: „Ich kann das nicht mehr lange mitmachen.“ Ralf dagegen wollte Zuversicht vermitteln: „Die meisten geben sich auf – ich nicht.“ Auch sein Mentor Dirk Scharfen hatte da noch Hoffnung.

Doch dann musste Ralf auf Druck des Ordnungsamtes den Platz unter der Kennedybrücke räumen. Als er seine Habseligkeiten zusammenpackte, mahnte Scharfen: „Es muss jetzt was von dir kommen.“

Im September kehrte der 38-Jährige noch einmal für ein paar Tage unter die Brücke zurück, inzwischen wohnt er bei einem Kumpel in dessen Beueler Wohnung. Er meldet sich regelmäßig bei Dirk Scharfen. Kürzlich erzählte er ihm, er habe eine Wohnung in Beuel in Aussicht. Und eine Stelle bei der Bahn. Scharfen nahm es schweigend zur Kenntnis. Seine Miene war verräterisch. Da sind inzwischen Zweifel.

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