Verhandlung am Bonner Landgericht Kind doch nicht geschüttelt? Zweites Gutachten entlastet Vater

Bonn/Rhein-Sieg-Kreis · Ein Vater aus dem linsrheinischen Rhein-Sieg-Kreis stand vor Gericht: Er soll sein Baby so lange geschüttelt haben, bis es irreversible Schäden davon getragen hatte. An dieser Darstellung zweifelt ein neues Gutachten – und liefert eine andere Erklärung.

 Ein zweites gerichtsmedizinisches Gutachten widerspricht der Darstellung des ersten.

Ein zweites gerichtsmedizinisches Gutachten widerspricht der Darstellung des ersten.

Foto: picture alliance/dpa/David-Wolfgang Ebener

Der Verdacht war furchtbar: Ein Vater, damals 24 Jahre alt, soll sein vier Monate altes Kind so lange geschüttelt haben, bis es ins Koma fiel – und zeitlebens geistig behindert bleiben wird. Zweieinhalb Jahre lang musste der Mann, der damals im linksrheinischen Rhein-Sieg lebte, mit diesem Vorwurf leben. Die Staatsanwaltschaft hatte ihn wegen schwerer Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen angeklagt. Ein erstes gerichtsmedizinisches Gutachten war zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kind eindeutig ein Schütteltrauma vorliege.

Die Richter der 1. Großen Strafkammer des Bonner Landgerichts jedoch waren skeptisch und beauftragten im Januar 2020 ein zweites Gutachten. Das Ergebnis ist überraschend – und entlastet den heute 27-jährigen Vater grundlegend, wie Gerichtssprecherin Patrizia Meyer am Dienstag auf Anfrage dieser Zeitung bestätigte.

Andere Ursache möglich

Demnach kann der folgenschwere Vorfall auch auf eine andere Ursache als auf ein Schütteltrauma zurückgeführt werden, so der Sachverständige. Denn der Säugling leidet nachweisbar von Geburt an an einem Gendefekt, der durchaus epileptische Anfälle bis zum Herz-Atemstillstand verursachen kann. Die schweren Verletzungen könnten daher auch auf einen epileptischen Vorfall zurückzuführen sein. Damals waren zahlreiche Einblutungen im Hirngewebe, in den Seitenkammern des Gehirns sowie in der Netzhaut des Auges diagnostiziert worden; auch wurde eine ausgeprägte diffuse Hirnschädigung mit umfassender Hirnschwellung festgestellt.

Der Vater hatte immer bestritten, das Baby geschüttelt zu haben: An dem Abend des 7. Mai 2018 war er mit dem Baby alleine zu Hause – die Mutter war kurz zuvor zur Arbeit gegangen. Beim Trinken, so hatte der Vater später immer wieder beteuert, habe sich das Baby so verschluckt, dass es gekrampft habe, bis es blau wurde. Als es dann plötzlich still war und nicht mehr reagierte, verständigte der verzweifelte Vater sofort den Notarzt. Der leblose Junge musste reanimiert werden, behielt aber irreversible Schäden zurück.

„Schüttelversion“ unwahrscheinlich

Die Staatsanwaltschaft hielt die Einlassung des Vaters damals für eine Schutzbehauptung – und blieb bei der Schüttelversion: Er habe das Kind aus Überforderung in Lebensgefahr gebracht, hieß es in der Anklage. Aber der zweite Gutachter kam jetzt zu diesem Ergebnis: Die Schilderung des Vaters, was an dem Abend mit dem Säugling geschehen ist, sei sogar sehr plausibel.

Einen Prozess gegen den Vater wird es nicht mehr geben. Die Bonner Richter haben das Verfahren gegen den 27-Jährigen nicht eröffnet. Denn seine Version sei „ebenso wahrscheinlich, sodass für den Angeklagten eine Strafbarkeit nicht festzustellen sein wird“, heißt es im Kammerbeschluss.

Wo die kleine Familie heute lebt, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob die Eltern des Kindes noch zusammen sind. Oder ob ihr Sohn – heute fast drei Jahre alt – noch bei ihnen ist und von ihnen betreut werden kann.

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