GA-Serie "Kinder Kinder" - Folge 2 „Kinder brauchen Zeit, das ist das Wichtigste“

Bonn · Bildungsforscher Jost Schieren spricht über Menschenbilder und Erziehungsstile. Er ist für den Fachbereich Bildungswissenschaft zuständig und unterrichtet angehende Lehramtskandidaten auch in Waldorfpädagogik.

 Jede Menge Menschenbilder im Spiegel: Ein Mädchen und ein Junge spiegeln sich in einer Installation im Erfurter Bahnhof. Wie aber sehen die Eltern den Nachwuchs und was erwarten sie von ihm?

Jede Menge Menschenbilder im Spiegel: Ein Mädchen und ein Junge spiegeln sich in einer Installation im Erfurter Bahnhof. Wie aber sehen die Eltern den Nachwuchs und was erwarten sie von ihm?

Foto: picture-alliance/ dpa

Heutzutage Kind zu sein, ist schwer. Alle wollen was von einem. Zuallererst die Eltern. Gute Noten in der Schule, Musikinstrument lernen, Sport treiben, viel lesen und am besten die Freizeit durchweg sinnvoll nutzen. Auf höchstem Niveau. Auch Eltern sind nicht zu beneiden, denn sie müssen das Kind auf dem Pfad der Leistung halten. Sie coachen den Sprössling bis zur Selbstaufgabe. Wenn die eigenen Fähigkeiten bei den Hausaufgaben nicht mehr reichen, muss die Nachhilfe ran. Das alles kostet Zeit, Geld und Nerven.

Dabei ist vieles von dem, was den Eltern heutzutage Druck macht, in gewisser Hinsicht selbst gemachtes Leid. Oder wenigstens gesellschaftliche Norm. Und die ist kein Naturgesetz. „Wie wir erziehen, hat mit unserem Menschenbild zu tun“, sagt Professor Jost Schieren von der Alanus Hochschule. Er ist für den Fachbereich Bildungswissenschaft zuständig und unterrichtet angehende Lehramtskandidaten auch in Waldorfpädagogik.

Er hat einen Wandel der Erziehung analysiert. „Früher haben die Eltern gar nicht über Erziehung nachgedacht, ihnen war vielleicht daran gelegen, dass ihr Kind das Gymnasium besucht“, sagt Schieren, der die Ringvorlesungsreihe der Alanus Hochschule konzipiert hat. „Heutzutage machen sich die Eltern mit ihrer Selbsterwartung enormen Druck, da muss es schon eine ganz bestimmte Schule sein.“ Die meisten Eltern vertreten unterbewusst ein ökonomisches Menschenbild. Es zählen Leistung und das Beschleunigungsdiktat. Alles muss immer schneller und früher geschehen. „Am besten Chinesisch lernen schon in der Grundschule“, sagt Schieren. Letztlich sei diese Lernform auf schnellen Konsum ausgerichtet. Literarische Texte etwa würden nicht mehr aus sich heraus verstanden sondern gewissermaßen mit Hilfe einer Gebrauchsanleitung, der Interpretationshilfe aus dem Internet, abgehakt. „Mit Sinn und Verstehen hat das nichts mehr zu tun“, so Schieren.

Diesem Befund setzt der Professor das humanistische Weltbild entgegen, so wie es die reformpädagogischen Ansätze von Montessori und die Waldorfpädagogik vertreten. Dort setze man auf Einsicht, auf „intrinsische Motivation“. Soll heißen: Die Freude am Lernen kommt von innen heraus. Damit die beim Schüler überhaupt entstehen kann, bedarf es freilich einiger Voraussetzungen: Der Lernstoff muss so dargeboten werden, dass er Interesse weckt. Der Lehrer braucht Fantasie, und er muss sich bewusst sein, dass sein Unterricht eine Art „Performance“ ist. Wenn er vor der Klasse steht, ist das ein Auftritt, der darauf angelegt ist, den Schülern den Lernstoff schmackhaft zu machen.

Was das Ganze schwierig macht, ist die Tatsache, dass Menschen unterschiedlich schnell lernen. „Wir sind es gewöhnt, von den Kindern zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Wissen und Können zu erwarten, wir praktizieren eine durchnormierte Bildung“ sagt der Professor. Dabei lerne jedes Kind in seiner eigenen Geschwindigkeit. Und noch etwas: Fehler gelten als unerwünscht. Dabei seien gerade Fehler wichtige Lernschritte. Sie als Problem anzusehen, schade dem natürlichen Lernvorgang.

Kontraproduktiv wirkte der sogenannte „Pisa-Schock“ aus dem Jahr 2001. Bis zur Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie waren Bildungspolitiker in unserem Land davon ausgegangen, dass deutsche Schulen qualitativ an der Weltspitze rangieren. In dieser Hinsicht war das Ergebnis niederschmetternd. Noch immer liegen Slowenien und Estland in der internationalen Bildungshitparade vor Deutschland.

Parallel hielten Handys und Internet Einzug ins bundesdeutsche Kinderzimmer. Mit der Folge, dass Eltern, die früher froh waren, wenn die Kinder drinnen spielten, weil das maximale Sicherheit bedeutete, heute nicht mehr wissen, was sich hinter der geschlossenen Kinderzimmertüre tut. Lieber wäre ihnen, die Sprösslinge wären im Garten. Da hätte man sie wenigstens unter Kontrolle.

Das alles fordert und überfordert Eltern zunehmend. Die Unsicherheit der Erziehungspflichtigen manifestiert sich in der großen Zahl an Buchtiteln zur Erziehungshilfe. Ob der Reflexionsgrad junger Eltern in gleichem Maße gewachsen ist, darf bezweifelt werden. Und an dieser Stelle setzt Schieren an. „Wir müssen wieder darüber nachdenken, was Kinder brauchen.“ Es gebe nicht den einen richtigen Lernbegriff und das eine richtige Menschenbild. Aber so viel ist klar, meint der Professor: „Kinder brauchen Zeit, das ist das Wichtigste“.

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