Menschen mit Behinderung in Bonn Schwerer Einstieg ins Berufsleben

Bonn · Die Corona-Pandemie erschwert Menschen mit einer Behinderung den Einstieg in ein Berufsleben. Doch wie können Barrieren in den Köpfen der Menschen abgebaut werden?

 Helle Deertz betreut ein Projekt in Burkina Faso vom heimischen Rechner aus.

Helle Deertz betreut ein Projekt in Burkina Faso vom heimischen Rechner aus.

Foto: Stefan Hermes

Helle Deertz kämpft dafür, dass Menschen mit Behinderungen einen festen Platz in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Die Journalistin sowie studierte Romanistin und Pädagogin sitzt seit ihrer Geburt wegen einer infantilen Zerebralparese mit Tetraspastik im Rollstuhl und ist auf eine 24-Stunden-Assistenz angewiesen, um für die GIZ Projekte zur Inklusion in aller Welt beraten zu können. Vor dem Covid-19-Ausbruch war die 39-jährige Bonnerin noch auf Dienstreisen in Guinea und Guatemala.

„Nicht der Mensch ist behindert, die gesellschaftliche Wirklichkeit behindert ihn durch Barrieren und Vorurteile“, zitiert Deertz die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Als Expertin in eigener Sache, wie sie von ihrem Arbeitgeber, der in Bonn beheimateten Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) benannt wird, weiß Deertz von den Problemen zu berichten, mit denen Menschen mit einer Behinderung konfrontiert sind.

Projekte in der ganzen Welt

Ein Projekt in Burkina Faso betreut sie nun vom heimischen Rechner aus. Dabei bemerke sie oftmals ein Erstaunen ihrer Kolleginnen und Kollegen in Bonn sowie bei den Projektpartnern darüber, dass sie im Rollstuhl sitzt. „Diese Scheu verschwindet meistens recht bald. Dann geht es nur noch um Inhalte.“ Das sei für sie jedoch nicht immer so gewesen, sagt Deertz.

Ohne ihre Eltern, die sie immer wieder in ihren Plänen bestätigten, wäre sie nicht so weit gekommen. „Ihre Tochter braucht doch kein Abitur“, habe es damals vonseiten der Schule in Norddeutschland geheißen. „Es braucht Mut, sich aus der Behindertenrolle herauszubewegen“, sagt Deertz. Auf allen Seiten müsse man die Barrieren im Kopf abbauen, um zu erkennen, welche Bereicherung das Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen bedeuten kann. Mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag ist sie eine von den rund 70 schwerbehinderten Menschen, die in Bonn bei der GIZ arbeiten.

„Inklusion bedeutet für uns, Hürden abzubauen, der Individualität unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerecht zu werden und ihnen somit eine uneingeschränkte Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen“, teilt eine Sprecherin der GIZ auf Anfrage des GA mit.

 Josephine und Matthias Rinck suchen Kontakt zu Menschen und Bewegung – und wollen arbeiten.

Josephine und Matthias Rinck suchen Kontakt zu Menschen und Bewegung – und wollen arbeiten.

Foto: Stefan Hermes

Die Lage für Menschen mit Behinderung entwickelt sich während der Corona-Pandemie zunehmend schlechter als für Menschen ohne Behinderung. „Insgesamt liegt das Niveau der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland weiterhin auf dem Stand von 2016“, sagt Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Instituts zu dem im Auftrag der Aktion Mensch erstellten Inklusionsbarometer 2021.

Alle seit 2016 gemachten Fortschritte seien zunichtegemacht, so Rürup. Ziel des jährlich erscheinenden Inklusionsbarometers ist es, auf die größten Alltagsherausforderungen für Menschen mit Schwerbehinderung aufmerksam zu machen und damit die breite Öffentlichkeit für das Thema einer gleichberechtigten Teilhabe zu sensibilisieren.

Menschen mit Schwerbehinderung stoßen in ihrem Alltag häufig auf Barrieren, die vielen nicht behinderten Menschen nicht bewusst sind. „Um Inklusion auf dem Arbeitsmarkt voranzutreiben, braucht es zwingend einen Kultur- und Bewusstseinswandel, im Rahmen dessen Voreingenommenheit durch Offenheit ersetzt wird“, sagt Christina Marx, Bereichsleiterin Aufklärung der Aktion Mensch.

Die 30-jährige Bonner Rollstuhlfahrerin Josephine Rinck hat erfahren, „dass es leider noch viel zu viele Menschen gibt, die jemandem im Rollstuhl oder auch mit anderen Beeinträchtigungen viele Dinge von vorneherein nicht zutrauen.“

 Helle Deertz ist auf ihre 24-Stunden-Assistenz Ruben Kronberg angewiesen.

Helle Deertz ist auf ihre 24-Stunden-Assistenz Ruben Kronberg angewiesen.

Foto: Stefan Hermes

Glücklich als Servicekraft in einem Café

Man habe ihr immer wieder einen Job im Büro empfohlen, wo sie jedoch nicht hinwollte. Heute ist sie glücklich darüber, als Servicekraft in einem Café arbeiten zu können. „Ich brauche Kontakt zu Menschen und Bewegung“, sagt sie. In sieben Monaten Lockdown hat sie politisches Engagement für sich entdeckt und war unter anderem zusammen mit ihrem Mann als Expertin für ein barrierefreies Bonn für die Volt-Partei unterwegs (der GA berichtete).

Matthias Rinck (28), der ebenfalls auf einen Rollstuhl angewiesen ist, sucht derzeit wieder Arbeit. Nach nur sieben Wochen bei der Kultusministerkonferenz (KMK) wurde dem gelernten Bürokaufmann wieder gekündigt. Um bei der KMK eine Anstellung zu finden, hatte er weit mehr als 100 Bewerbungen geschrieben. „Trotz einiger Bewerbungsgespräche erhielt ich immer wieder Absagen, über deren Gründe ich in den meisten Fällen nur spekulieren kann“, sagt Rinck. Nachfragen seien meist unbeantwortet geblieben.

Er ist davon überzeugt, „dass es bis heute noch viele Arbeitgeber gibt, die vor einer Einstellung von behinderten Menschen zurückschrecken, sei es aus mangelnder Erfahrung, vermuteten Problemen im Arbeitsalltag oder dem verstärkten Kündigungsschutz“.

70.000 Menschen mit Behinderung ohne Job

Schon im vergangenen Jahr waren knapp 70.000 Personen mit Behinderung mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung, davon über die Hälfte sogar länger als zwei Jahre, ist dem aktuellen Inklusionsbarometer zu entnehmen. „Für Menschen mit Behinderung, die schon lange arbeitssuchend sind, bestehen ohne eine aktive Unterstützung seitens Wirtschaft und Politik kaum Chancen, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen“, erklärt Christina Marx als Sprecherin der Aktion Mensch. „Diese Menschen werden schlichtweg vergessen und durch strukturelle Barrieren auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt.“

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