Selbstverteidigung in Bonn Mit der Angst steigt die Nachfrage

Bonn · Kurse für Frauen verzeichnen seit Silvester einen starken Andrang, nie zuvor wurden Reizgas und Schreckschusswaffen in solch großen Mengen gekauft. Laut Polizei hat sich die Sicherheitslage aber nicht verändert

 Dahin, wo es weh tut: Ellen Mikulske trainiert mit Michael Schindewolf vom Bonner Polizeisportverein Schlagtechniken zur Selbstverteidigung.

Dahin, wo es weh tut: Ellen Mikulske trainiert mit Michael Schindewolf vom Bonner Polizeisportverein Schlagtechniken zur Selbstverteidigung.

Foto: Andreas Dyck

Schläge in Kopfhöhe, Tritte in die Leistengegend, dazu markdurchdringende Schreie: Ellen Mikulske geht nicht zimperlich mit Michael Schindewolf um. Doch der Kursleiter ermuntert die junge Frau aus Oedekoven, noch fester zuzutreten. „Hau ab!“, schreit sie ihn an bis er zurückweicht. Beim Selbstbehauptungskurs des Bonner Polizeisportvereins ist voller Körpereinsatz gefragt. Hier lernen die 27 Kursteilnehmerinnen, sich gegen Angreifer zur Wehr zu setzen – verbal, mit Körpersprache und notfalls eben auch mit körperlichem Einsatz.

Seit den Vorfällen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht ist die Nachfrage nach solchen Kursen in die Höhe geschnellt. In Köln hatten Männergruppen mehrheitlich junge Frauen sexuell belästigt und bestohlen. Unter den Tätern sollen Nordafrikaner und auch Flüchtlinge gewesen sein. Die Vorfälle hatten weltweit Schlagzeilen gemacht und wirken sich fast drei Wochen später noch immer auf die Flüchtlingsdebatte in Deutschland aus.

„Wir merken die verstärkte Nachfrage nach Selbstverteidigung schon sehr deutlich. Sie ist um 200 Prozent gestiegen“, berichtet Schindewolf. Den Selbstbehauptungskurs für Frauen bietet der Polizeisportverein in Zusammenarbeit mit dem Kriminalkommissariat Vorbeugung seit Anfang der 90er Jahre an. Bei zehn Treffen zu jeweils drei Stunden lernen Frauen, sich gegen Belästigungen zu wehren. Anwesend ist immer auch eine Psychologin. Insbesondere Frauen, die bereits Opfer sexueller Gewalt geworden sind, können dadurch fachlich betreut werden.

Ein Stuhlkreis auf Bänken in einer Turnhalle des Polizeipräsidiums, an dessen Kopfseite sich Patrick Isaza einer Teilnehmerin nähert. Geübt werden in Rollenspielen bedrohliche Situationen. Die Szene spielt in einer Straßenbahn. Isaza setzt sich neben die Frau, beugt sich zu ihr vor und sucht das Gespräch. Energisch weist die den ungebetenen Gesprächspartner in die Schranken. Mit fester Stimme macht sie ihm klar, dass er unerwünscht ist und sie in Ruhe lassen soll. Doch der Trainer bleibt hartnäckig: „Was hast du denn, warum so hysterisch?“ Die junge Frau springt auf und schreit ihn an: „Dann bin ich eben hysterisch, lass mich in Ruhe!“

„Dieser Kurs bringt mir etwas für mein Selbstbewusstsein“, sagt eine Teilnehmerin, die anonym bleiben möchte. An Silvester sei sie ebenfalls in eine unangenehme Situation geraten, als ein Mann sie auf dem Heimweg gegen 5 Uhr belästigt habe und neben ihr hergelaufen sei. „Ich habe schon vorher überlegt, hier mitzumachen“, sagt sie. Der Vorfall an Silvester brachte dann die Entscheidung für den Kurs. Sexualstraftäter würden Opfer suchen und keine Gegner, sagt Kerstin Seiffert, Kriminalhauptkommissarin für den Bereich Prävention und Opferschutz.

Deshalb würden die Frauen während des Kurses auch an ihrer Körpersprache arbeiten und lernen, selbstbewusst aufzutreten. Wichtig sei zudem die Eigenwahrnehmung: „Wenn mein Bauchgefühl mir sagt, dass etwas nicht stimmt, sollte ich auf Distanz gehen.“ Untersuchungen der Polizei in den Achtzigern hätten zudem ergeben, dass 85 Prozent der Täter von ihrem Opfer ablassen, wenn sich die Frau massiv zur Wehr setze.

Auch andernorts macht sich die gestiegene Nachfrage nach Selbstverteidigungskursen bemerkbar. Marko Panayi ist ausgebildeter Selbstverteidigungstrainer und hat sich auf militärischen Nahkampf spezialisiert. Die Nachfrage sei explosiv gestiegen und habe sich vervierfacht, er müsse kaum noch Werbung machen.

Panayi hat auch einen Pfefferspray-Kurs im Programm, der seit den Vorfällen in Köln, anders als vorher, auf überaus hohes Interesse stoße. Er habe aber auch den Eindruck, dass viele Frauen nach Silvester eine Art Crashkurs suchen. Die Suche nach dem schnellen Mittel gegen die Angst macht sich auch in den Suchanfragen im Internet bemerkbar. Pfeffersprays gehören auf der Verkaufsplattform Amazon zu den zurzeit meistverkauften Produkten. Die Google-Suche nach Begriffen wie Selbstverteidigung und Pfefferspray und Schreckschusspistole ist in Nordrhein-Westfalen seit Dezember fünf- bis zehnmal so hoch.

„Der Hauptgrund für die Frauen, die jetzt einsteigen, ist, dass sie sich unsicher fühlen, Angst haben und sich nicht trauen, auf die Straße zu gehen“, sagt Christine Demarcus, die Selbstverteidigungskurse für Frauen in Poppelsdorf anbietet. Sie rät Frauen, unsicheren Situationen wenn möglich aus dem Weg zu gehen und beispielsweise dunkle Gassen zu meiden, auch wenn das einen Umweg bedeute. Selbstverteidigung sei immer der letzte Schritt.

Auch Kursteilnehmerin Almaz aus Bonn hat seit Silvester Angst. Allerdings fürchtet sich die 49-jährige gebürtige Eritreerin, die in Köln arbeitet, vor allem vor rechtsextremen Übergriffen und Aufmärschen. „Natürlich bin ich enttäuscht über den Polizeieinsatz an Silvester und wünsche mir, dass die Täter festgenommen werden“, sagt sie. „Aber vor den Rechten habe ich seither noch sehr viel mehr Angst.“ Fast alle Dunkelhäutigen, die sie kenne, würden den Kölner Hauptbahnhof seit Anfang des Jahres meiden.

Ein Video zum Thema gibt es unter ga.de. Die nächsten Selbstbehauptungskurse bietet der Polizeisportverein ab Montag, 11. April, sowie Mittwoch, 13. April, an. Infos unter http://selbstbehauptung-online.de

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