Karl Dietrich Bracher aus Bonn Nachruf: Historiker mit verblüffendem Weitblick

Bonn · Karl Dietrich Bracher, der 1959 das Seminar für Politische Wissenschaften der Universität Bonn, gründete und aufbaute, starb am Montag im Alter von 94 Jahren. Nicht nur für die Studentenbewegung der 1960er Jahre galt der Wissenschaftler als Leuchtgestalt.

Karl Dietrich Bracher starb im Alter von 94 Jahren.

Foto: Max Malsch

Als "Radikaldemokrat" hätte er sich nie bezeichnet, dafür lag der Begriff zu nah bei jenen Zirkeln, die später als Studentenbewegung bezeichnet werden sollten. Und doch: Karl Friedrich Bracher war einer, für den die Grundsätze der Demokratie die einzige Basis für einen freiheitlichen Rechtsstaat bilden. Wer die frühen Schriften des Bonner Gelehrten liest, wer seine nüchternen Analysen der ersten Großen Koalition nachliest oder seine Reden zu den Notstandsgesetzen, dem wird dieser fast zeitlose Weitblick auffallen. So mancher Aufsatz des Politikwissenschaftlers und Historikers liest sich auf verblüffend-erschreckende Weise wie eine kritische Abhandlung zur aktuellen Situation und die Debatte um den Umgang mit der AfD. Der renommierte Wissenschaftler und Begründer des Seminars für Politische Wissenschaften der Universität Bonn, Professor Karl Dietrich Bracher, starb am Montag im Alter von 94 Jahren – ein Wissenschaftler, der wohl wie kaum ein anderer Politikwissenschaftler die Bonner Republik prägte.

Der Rektor der Universität Bonn, Professor Michael Hoch, würdigte den Verstorbenen als einen der herausragendsten Wissenschaftler, die die Universität Bonn im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat: „Die Universität Bonn verdankt Karl Dietrich Bracher sehr viel. Er war ein Pionier der deutschen Politikwissenschaft. Sein Lebenswerk prägt das Fach und den Ruf der Universität Bonn in dieser Disziplin bis heute. Wir werden ihn nie vergessen.“

Was Bracher so auszeichnete, das war sein untrüglicher analytischer Blick, die Mischung aus einer geradezu angelsächsischen Nüchternheit, profundem Wissen historischer Abläufe und deren kühle Einordnung in größere Zusammenhänge. Dazu kam sein „Mut zur klaren Stellungnahme“, wie Ludger Kühnhardt, sein letzter wissenschaftlicher Assistent vor dessen Emeritierung 1987, betont. Für Kühnhardt, heute Direktor des Zentrums für Europäische Integrationsforschung (ZEI) und Professor am von Bracher begründeten und mittlerweile umbenannten Instituts für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn, war Bracher aber auch einer, der bis zuletzt bei Gastvorträgen immer wieder für das „schonungslose Lernen aus der Geschichte“ plädierte. Egal ob in Deutschland, den USA, Russland oder China.

Verbale Posaunen waren seine Sache nicht

Bracher, 1922 in Stuttgart geboren, legte 1940 sein Abitur ab, erlebte in dieser Zeit hautnah die Entstehung des totalitären Hitler-Staates mit. Als er 1943 als Mitglied des Afrika-Korps in amerikanische Gefangenschaft geriet, lernte er die USA kennen. In der Nähe von Concordia in Kansas baut er mit anderen im Lager eine Universität auf. "Ich gab Lateinkurse", erinnerte er sich bei einem Gespräch an seinem 90. Geburtstag. Dass Bracher ein Wissenschaftler von Weltrang war, bewiesen nicht nur die vielen Rufe zu Universitäten in Harvard, Washington, Florenz und anderen Hochschulen. Karl Dietrich Bracher blieb indes, bis auf einige Gastprofessuren, stets in Bonn. Es ist auch diese Bescheidenheit, die Bracher stets prägte. Auch seine Arbeiten. Er gehörte nicht zu jenen, die mit lauten Vokabeln hantierten.

Verbale Posaunen waren seine Sache nicht, dazu war er viel zu sehr der Wissenschaft verpflichtet. Dass sein Blick auf die Zeitgeschichte ja auch persönliche Gründe hat, darauf verwies er einmal: „Auch mir verhalfen Krieg und Gefangenschaft zum besseren, ja elementaren Verständnis für jene vorwiegend westliche Tradition von Demokratie und Menschenrechten, von der sich Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu seinem Unheil entfernt und zum Teil auf einen verhängnisvollen Eigenweg begeben hatte - bis schließlich zur Kriegserklärung an die westlichen Demokratien überhaupt“, sagte er.

Sein Studium der Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaften schließt Bracher 1948 in Tübingen mit seiner Doktorarbeit über "Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit" ab. Nach einem Jahr an der Harvard-Universität geht Bracher nach Berlin, wo er 1955 habilitiert. Seine Schrift über die "Auflösung der Weimarer Republik" gilt heute noch als Standardwerk. „Das Machtvakuum und der Mangel an Selbstschutz - diese beiden Kategorien, die Bracher für den Weimarer Verfallsprozess herausarbeitete, blieben nicht nur analytisch entscheidend, sondern wurden ganzen Generationen von Wissenschaftlern Maßstab für die vielen Durchleuchtungen der Stärken und Anfälligkeiten des (Bonner) Grundgesetzes.“, sagt Kühnhardt.

Leuchtgestalt für die Studentenbewegung

Wenige Tage nach dem folgenschweren Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 weist Bracher auf Tendenzen der Entdemokratisierung hin: "Wir haben Anlass, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das gestörte Verhältnis von Staatsbürger und Autorität hinzuweisen. … Wir stehen vor der Tatsache, dass die Maßstäbe, die das Grundgesetz bestimmt haben, zunehmend in Frage gestellt oder eingeschränkt werden; dass weniger von Demokratie und unteilbarer Freiheit, wie der mehr und mehr von Staatsautorität und nationalbewusster Politik gesprochen wird."

Für die Studentenbewegung gilt der junge Wissenschaftler als Leuchtgestalt, vor allem, weil er als einer der Ersten in Deutschland, und lange als einziger etwa an der Bonner Uni, überhaupt die NS-Machtergreifung, den Aufstieg und Fall der NS-Herrschaft analysiert. Der damalige Bonner Studentenführer und spätere Historiker Hannes Heer schrieb über Bracher, er habe sich „gegen alle Versuche fortschrittlicher Studenten, ihn auf den Schild des tribunus plebis zu heben, abgesichert“. So war Bracher eben. Er ließ sich nicht instrumentalisieren, aber er liebte die Debatte.

Bracher schrieb Standardwerke

„Er war Studenten gegenüber sehr offen zugewandt“, so der frühere Bonner Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Bürger für Beethoven, Stephan Eisel, der bei Bracher promovierte. „Seine Hauptseminare und Doktorandenkolloquien waren offene Foren, und er merkte gleich, wenn sich Studenten nicht an einer Diskussion beteiligten.“ Und Bracher hielt den Kontakt zu vielen seiner „Schüler“, darunter Politiker wie Friedbert Pflüger, Wolfgang Bergedorf oder Bonns frühere Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann. Rund 120 Schüler hat er promoviert, unter ihnen auch Margarita Mathiopoulos, gegen die Plagiatsvorwürfe erhoben wurden. Bracher hat das sehr getroffen. Bis zuletzt verteidigte er ihre Arbeit als "gut lesbar".

Für die Studenten, auch die Medien, war Bracher eine Ausnahmegestalt im Unibetrieb. Bracher erinnerte sich vor vier Jahren: "Die Historiker waren damals der Meinung, alle Akteure müssten gestorben sein, bevor über diese Zeit überhaupt objektiv geschrieben werden könnte. Und es gab damals ja mehr alte Nazis als junge Leute." Joachim Fest, der 1973 mit "Hitler. Eine Biografie" einen Bestseller herausbrachte, faszinierte Brachers Werk über "Die deutsche Diktatur" (1969) als "erste sachkundige Gesamtdarstellung von Entstehung, Geschichte und Nachwirkung des Nationalsozialismus". Es sei eine "von Engagement und Kühle gleichzeitig geprägte Geschichtsschreibung", jubelt er im Spiegel. Und die New York Times urteilte: „Dieses Werk müssen Sie unbedingt gelesen haben.“

„Pluralität als Lebensweise - so könnte man sein Lebensmotto definieren in Absage an alle von ihm in einem langen Leben erfahrenen, erlittenen und glücklich überstandenen totalitären Denk- und Lebensformen“, sagt Kühnhardt. Eisel nickt. Er promovierte bei Bracher über „Minimalkonsens und freiheitliche Pluralität“. Ein echtes Bracherthema.

Info: Trauerfeier und Beerdigung von Karl Dietrich Bracher finden statt am kommenden Montag, 26. September, um 12 Uhr auf dem Poppelsdorfer Friedhof, Friedhofskapelle, Zugang von der unteren Seite des Friedhofs über den Wallfahrtsweg.