Der "Rudi Dutschke von Bonn" NS-Zeit und deutsche Schuld sind sein Thema

Bonn · Vor 20 Jahren wurde in Hamburg die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" eröffnet. Im Oktober 1998 war sie auch in der Bonner Beethovenhalle zu sehen. Wohl kaum eine andere Ausstellung wurde republikweit derart kontrovers diskutiert.

 Hannes Heer in seinem Arbeitszimmer in Hamburg.

Hannes Heer in seinem Arbeitszimmer in Hamburg.

Foto: Cem Akalin

Sie löste einen Schock aus, weil sie eine der Gründungslegenden der Bundesrepublik zerstörte, wonach ausschließlich die SS für NS-Verbrechen verantwortlich gewesen, die Wehrmacht aber in Erfüllung ihrer militärischen Pflicht "sauber und anständig" geblieben sei. Federführender Ausstellungsmacher war Hannes Heer, der in der 1960er Jahren auch der "Rudi Dutschke von Bonn" genannt wurde. Mit dem 75-Jährigen sprach Martin Wein.

In Bonn waren Sie 1968 ein führender Kopf der Studentenbewegung. Was ist das für ein Gefühl, wenn Sie heute in die Stadt kommen?
Hannes Heer: Die Universität, der Hofgarten, die Bastei mit dem Blick auf den Rhein, der schöne Marktplatz mit dem Rathaus - alles das lässt bei mir ein Gefühl der Vertrautheit aufkommen, wie ich es in fast keiner anderen Stadt empfinde. Eine Art von Heimat. Fremd wird mir, wenn ich in die Uni reingehe. Dort ist nichts mehr von der Offenheit, Neugierde und der politischen Stimmung zu spüren, die ich kannte.

Heutigen Studenten wird oft zu wenig Engagement und eigene Meinung unterstellt. Wie sehen Sie das?
Heer: Aus der Makroperspektive empfinde ich das ähnlich. Ich bedauere diese Generation, die in einem so eingegrenzten, kontrollierten Raum aufwächst und studiert. Da kann sich keine Bildung und Persönlichkeit entwickeln. Ich habe damals mal ein ganzes Semester Archäologie studiert oder Kunstgeschichte. Das wäre heute undenkbar. Im Gespräch mit jungen Leuten entdecke ich trotzdem dieselbe Begeisterungsfähigkeit, Intelligenz und ein Leiden an der Zeit, wie es uns eigen war.

Ihr Engagement im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) hat Sie damals um die herkömmliche Erwerbsbiografie als Lehrer gebracht, weil man Ihnen das Referendariat verweigerte. Wie ordnen Sie das heute ein?
Heer: Das war damals eine hilflose Aktion der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die ein Exempel statuieren wollte. Auf diese Weise ist mein Leben ein sehr buntes geworden. Die Jahre am Theater, die Zeit beim Film oder einen Orkan wie die Ausstellung hätte ich als Lehrer nicht erlebt. Andererseits wäre ich gerne mit diesen verschiedenen Generationen junger Menschen mitgegangen. Das Potenzial junger Menschen, das man als Lehrer wachrufen kann, ist enorm.

Als Historiker haben Sie sich immer wieder mit der NS-Diktatur auseinandergesetzt, vor allem 1995 in der seinerzeit umstrittenen Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944". Waren Sie damals erstaunt über deren Echo?
Heer: Absolut! Ich hatte trotz meiner Dokumentarfilme zu ähnlichen Themen überhaupt keine Kennzahlen für das, was da im Untergrund der älteren Generation vergraben liegt. Es gab vorher ja verschiedene Anlässe wie die Fischer-Kontroverse um den Ersten Weltkrieg, den Eichmann-Prozess oder Hochhuths Drama "Der Stellvertreter", bei denen sich die (west-)deutsche Gesellschaft mit der NS-Zeit befasste. Aber hier fühlte sich nun eine ganze Generation persönlich angesprochen.

Haben Sie bei den Recherchen für die Ausstellung Ärger oder Wut empfunden, dass die Überlebenden der Wehrmacht noch Jahrzehnte später ihrer Geschichte nicht wirklich begegnen mochten?
Heer: Auf das Schweigen war ich vorbereitet. Das hatte ich mit meinem eigenen Vater erlebt. Zufällig hatte ich als Student in Bonn in alten Papieren einen Zeitungsausschnitt gefunden. Darin wurde 1939 über seine Rede als Schützenkönig und Parteigenosse in meinem Geburtsort Wissen an der Sieg berichtet, wie er dem Führer für das schöne Deutschland dankt. Es gab einfache Erklärungen dafür, warum er Parteimitglied geworden ist. Er hat aber nie ein Wort dazu gesagt, auch nicht über seine Kriegsjahre. Ich war aber nicht vorbereitet auf das Maß an Aggressivität. Teile der Kriegsgeneration haben sich, um mit Elias Canetti zu sprechen, in den "Mob" verwandelt. Die wollten die Ausstellung einfach weghaben! Das waren nicht die Neonazis, sondern die Mitte der Gesellschaft, die nach 1945 in Politik und Wirtschaft führend war. Da wurden Energien freigesetzt, auf die rationale Argumente keinen Einfluss haben.

Heute hat man das Gefühl, die Gesellschaft habe sich an der NS-Zeit abgearbeitet. Dabei sind die Verstrickungen vieler Berufszweige bis heute nicht wirklich aufgearbeitet. Bereitet Ihnen diese Entwicklung Sorge?

Heer: Es war ein guter Ansatz, die Ergebnisse der Nürnberger Prozesse über die Rolle der großen Institutionen in der NS-Zeit wissenschaftlich nachzuarbeiten. Ich habe den Eindruck, dieser Prozess ist stecken geblieben. Die jüngste Untersuchung über den Bundesnachrichtendienst erscheint mir sehr harmlos verlaufen zu sein. Viele Bereiche wurden noch gar nicht untersucht. Was mich mehr erschreckt, ist allerdings, was in den populären Medien geschieht. Es ist zwar erfreulich, das Feld nicht den Historikern allein zu überlassen, die ihre Debatten am liebsten in geschlossenen Räumen und sehr vorsichtig führen. Die betuliche Art, in der Guido Knopp die Vergangenheit umgedeutet und relativiert hat, ist nun aber von einer Neukonstruktion in fiktionalen Formen abgelöst worden. Mit Bernd Eichingers "Untergang" oder zuletzt Nico Hofmanns "Unsere Mütter, unsere Väter" wurde nicht mehr umgedeutet, sondern einfach die Geschichte des Dritten Reiches neu erfunden - und das mit dem Geld öffentlich-rechtlicher Medien.

Womit beschäftigt sich Hannes Heer heute?
Heer: Einerseits mit der Geschichte der Wagner-Festspiele in Bayreuth, wo ich mit einer hochkarätig besetzten Initiativgruppe bisher gesperrte Nachlässe öffnen und im Nationalarchiv Bayreuth zusammenführen möchte. Andererseits bereite ich ein neues Buch vor. Darin interpretiere ich die großen politischen Skandale der Bundesrepublik von der Fischer-Kontroverse bis zu Martin Walser als Prozess der Selbstaufklärung und Selbstaneignung der deutschen Schuld von 1933 bis 1945. Ich will zeigen, wie die Gesellschaft der Bundesrepublik erst in diesen selbstkritischen Debatten demokratiefähig geworden ist.

Hannes Heer spricht am Mittwoch ab 19 Uhr bei einem Vortrag im Haus der Bildung, Mülheimer Platz 1, über die Rezeption der Ausstellung und erläutert seine These, dass der neue deutsche Geschichtsfilm wieder an die Kriegsfilme der 1950er und 1960er Jahre anknüpft. Der Eintritt ist frei.

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