Interview mit Präsident des Landgerichts Regeln müssen mit Nachdruck angewendet werden

Der Präsident des Bonner Landgerichts, Stefan Weismann, über Bandenkriminalität, die sich nach Bonn verlagert. Aber auch über eine „Insel der Glückseligen“, für die er die Bundesstadt hält. Mit ihm sprach Nicolas Ottersbach.

 Landergericht Bonn, Präsident Dr. Stefan Weismann in seinem Büro

Landergericht Bonn, Präsident Dr. Stefan Weismann in seinem Büro

Foto: Nicolas Ottersbach

Herr Weismann, viele Menschen haben das Gefühl, dass die deutsche Justiz zu lasch urteilt. Lässt sie zu viel durchgehen?

Weismann: Pauschal möchte ich das nicht beantworten wollen. Wir haben lange Zeit Eigentumsdelikte gesellschaftlich strenger geahndet als andere Delikte. Das hat sich gottlob geändert, was auch zur Änderung des gesetzlichen Strafrahmens führte, beispielsweise bei den Delikten zum Schutze der körperlichen Unversehrtheit, der sexuellen Selbstbestimmung und der Achtung des anderen. Sie sind im Strafrahmen zu Recht deutlich angehoben worden. Und dem folgen dann ja auch die Gerichte.

Aber woher kommt dann dieses subjektive Empfinden?

Weismann: Wir haben über viele Jahrzehnte einen allgemeinen – wie ich finde falschen – Konsens gehabt, dass es keines starken Staates bedarf. Es wurde Polizei abgebaut, es wurde Justiz abgebaut, es wurden Angebote in Jugendzentren abgebaut. Die Präventionsarbeit wurde heruntergefahren. Der Staat wurde mehr als Kostenfaktor gesehen und sollte möglichst schlank ausgestaltet sein. Das Resultat sehen wir jetzt.

Was müsste der Staat stattdessen tun?

Weismann: Ich muss den Jugendlichen etwas bieten. So wie in Stolberg. Das war ein Hotspot der rechtsradikalen Szene. Dann machte die Städteregion dort ein Jugendcafé auf, an dem auch Polizei und Justiz beteiligt waren. Die fingen mit Dingen wie Kochen lernen an. Es gab einen enormen Zulauf. In dem Moment, wo Familien das nicht mehr leisten können, entsteht ein Vakuum, das mit Konsum und manchmal auch Unsinn gefüllt wird. Jugendliche wollen etwas machen, sich ausprobieren und von Erwachsenen abgrenzen. Dabei brauchen sie aber einen gewissen Rahmen. Ich selbst bin hier in Oberkassel zum Teil im Jugendheim aufgewachsen. Dort habe ich wie jeder Jugendliche Dummheiten gemacht. Aber es war jemand da, der einen von großen Dummheiten abgehalten hat.

Also fehlt es an Leuten, die die Jugendlichen an die Hand nehmen?

Weismann: Wir sind da hingegangen, weil das ein Treffpunkt für uns war. Der Pfarrer oder auch Studenten haben uns ein Forum geboten und sinnvolle Anregungen gegeben. Wenn solche Orte wegfallen, kann das leicht zu problematischen Entwicklungen führen. Sparen ist nicht immer die beste Devise. So ist das in der Justiz auch. Wir fangen jetzt wieder an zu investieren und werden auch wieder andere Möglichkeiten haben. Die Einhaltung von Regeln muss man von Beginn an sehen, von der Erziehung bis zur Vollstreckung. Die Justiz ist nur ein kleiner Teil im gesamten gesellschaftlichen Prozess.

Wo steht da Bonn im Moment?

Weismann: Ein wirkliches Urteil kann ich mir noch nicht erlauben. Am Landgericht und den Amtsgerichten im Bezirk sind wir jedenfalls gut aufgestellt, auch wenn es Verbesserungsmöglichkeiten gibt.

Richter gibt es folglich genug?

Weismann: Personal werden wir in den nächsten zwei Jahren schon mehr brauchen. Wir haben eine permanente Unterbesetzung in fast allen Dienstzweigen von grob zehn Prozent, wobei das in ganz Nordrhein-Westfalen so ist. Sicherlich wäre es schön, wenn es mehr Richter gäbe. Aber vor einigen Jahren war hier die Unterbesetzung viel größer, teilweise haben wir bis zu 130 Prozent mehr Personal benötigt. Deswegen sind unsere Leute inzwischen ganz froh. Was stimmt: Mit mehr Personal werden die Verfahren schneller abgearbeitet.

Nur schneller?

Weismann: Und qualitativ besser. Ob ich als Strafrichter 400 oder 250 Verfahren im Jahr bearbeite, macht einen großen Unterschied. Noch viel größer ist das Problem bei den Rechtspflegern. Das ist unser notleidendes System, weil es ein anwärtergespeister Dienstzweig ist. Da kann ich nicht einfach Leute einstellen, sondern wir sind auf Absolventen der Fachhochschule angewiesen. Wir hatten in der Vergangenheit dasselbe Problem bei Gerichtsvollziehern. Inzwischen werden genügend ausgebildet. Doch generell haben wir einen sehr gut funktionierenden Rechtsstaat.

Dennoch fühlt es sich falsch an, wenn jemand wie Dieter Degowski, einer der beiden Haupttäter des Gladbecker Geiseldramas, nach 30 Jahren ein freier Mann ist.

Weismann: Das sind – salopp gesagt – emotionale gesellschaftliche Vorstellungen. Recht ist in Normen gegossene Politik und damit, abgesehen von übergesetzlichen Grundwerten, immer auch Ergebnis gesellschaftlicher Überzeugungen. Denken Sie nur an das Raserurteil von Köln. Dort hat sich langsam die Meinung geändert. Justiz findet immer in diesem Kontext statt. Dass jemand wie Degowski in Freiheit lebt, passiert in Deutschland häufig. Seit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist es so, dass auch die lebenslange Freiheitsstrafe nicht die Chance nehmen darf, irgendwann in Freiheit zu leben. Das wird aus der Menschenwürde abgeleitet, die jedem, auch dem Mörder, zukommt.

Welche Rolle spielen Emotionen?

Weismann: Im Fall des Bankierssohns von Metzler hätten bestimmt 80 Prozent der Bevölkerung gesagt, dass die Androhung von Folter in Ordnung war. Wenn man aber darüber nachdenkt, kommt man zu dem Ergebnis, dass Folter ohne Ausnahme verboten sein muss. Sonst schafft man die Möglichkeit, dass Dämme brechen. Selbst wenn einem das emotional unglaublich schwer fällt. Deswegen erscheinen viele Juristen als kalt. Aber das sind sie nicht.

Ist die Gesellschaft zu heiß?

Weismann: Nein. Es ist doch menschlich, dass man Emotionen hat. Nur für die Organisation einer Gesellschaft wird eben auch als Korrektiv die nüchterne Einbeziehung der großen Zusammenhänge gebraucht.

Wie gut hat dieses Korrektiv in den vergangenen Jahren funktioniert?

Weismann: Im Großen und Ganzen gut. Allerdings hat der Rückzug des Staates und die Fokussierung auf wirtschaftliche Interessen begünstigt, dass sich Parallelgesellschaften gebildet haben. Zugucken und sich Dinge entwickeln lassen ist fatal. Gerade bei der Integration. Denn Integration heißt nicht, dass der Zuwanderer wie ein Bayer auftritt. Sondern heißt, dass ich dafür sorge, dass die Regeln unseres Zusammenlebens respektiert werden. Wenn es aus einem anderen Kulturkreis Wanderungsbewegungen gibt, kann ich Regeln freundlich, aber auch mit Nachdruck einfordern. Dasselbe gilt übrigens für den Dieselskandal. Dort haben sich Firmen, obwohl sie es wussten, nicht an Gesetze gehalten. Es ist egal, worüber ich mich hinwegsetze. So kann Gesellschaft nicht funktionieren.

Und dann gibt es Sami A., der abgeschoben und dann wieder zurückholt wird.

Weismann: Der Fall Sami A. liegt im Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichte, sodass ich mangels Aktenkenntnis keinen fundierten Kommentar abgeben kann. Allgemein kann ich aber sagen, dass sich der Rechtsstaat selbst an das Recht halten muss, weil er sonst das Vertrauen verliert, das er unbedingt braucht. Dazu gehört insbesondere auch die Gewaltenteilung. Stimmungen und momentanes Rechtsempfinden in der Gesellschaft können keine Leitschnur für unseren freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat sein, weswegen die Väter und Mütter des Grundgesetzes aus guten Gründen eine parlamentarische Demokratie und keine direkte Demokratie geschaffen haben.

Wenn Sie Aachen mit Bonn vergleichen, was fällt Ihnen besonders auf?

Weismann: Die Justiz spielt in Aachen eine größere Rolle. Das liegt an der geografischen Lage, der Struktur der Wirtschaft und dem Justizzentrum. In Bonn gibt es internationale Player wie die Post, Organisationen und die Bundesbehörden und -ministerien. In Aachen gibt es neben der RWTH und FH vorwiegend mittelständische Unternehmen, weshalb die Justiz mit ihren tausend Beschäftigten ganz anders wahrgenommen wird. Dabei muss sie überall präsenter sein, weil der Rechtsstaat eine essenzielle Säule jedes Gemeinschaftswesens ist.

Merkt man diese Unterschiede auch bei den Straftaten?

Weismann: Die geografische Lage sowie die soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur bestimmen das Geschäft der Justiz. Während Aachen durch das Dreiländereck geprägt ist, liegt Bonn mitten im Land und nahe an Köln. Die Lage Aachens gibt der organisierten Kriminalität vielfältige Rückzugsmöglichkeiten, Bonn nicht. Deshalb hatten wir dort in den vergangen Jahren verstärkt mit Rocker- und Bandenkriminalität zu kämpfen. In Bonn sind es mehr Einbrecherbanden. Möglicherweise hat es aber Verdrängungen gegeben.

Verdrängungen wohin?

Weismann: Die Kriminellen suchen sich Ausweichbetätigungen. Zum Beispiel in der Rauschgiftkriminalität. Die haben wir jetzt auch in Bonn, aber eher durch Konsumenten und den Handel. In Aachen ging es mehr um den Anbau. Das Prostitutionsgewerbe, Zuhälterwesen und der Menschenhandel waren in Aachen deutlich stärker, als ich es bisher hier wahrnehme. Dafür haben wir in Bonn im Zivilbereich deutlich mehr Banksachen, weil die Postbank hier ihren Sitz hat. So haben sie an jedem Standort spezifische Rechtsfragen.

Das klingt so, als wären die Aachener Straßen viel gefährlicher als die Bonner.

Weismann: Das kann man so nicht sagen. Manche Formen der Kriminalität wirken sich auf das Leben der Normalbürger gar nicht oder kaum aus, manche betreffen sein Sicherheitsgefühl besonders. Rauschgiftherstellung, Geldwäsche und Menschenhandel in Bordellen bekommen die Bürger meist gar nicht mit. Ganz anders bei Wohnungseinbrüchen oder der Beschaffungskriminalität von Rauschgiftabhängigen auf der Straße. Trotz aller Kriminalität leben wir in Europa in einer sehr guten Welt – und gerade in Bonn.

Vergessen die Bonner das manchmal?

Weismann: Nicht nur die Bonner. Der Mensch neigt dazu, das Gute in seiner Umgebung nach einiger Zeit nicht mehr zu schätzen. Er nimmt es als Selbstverständlichkeit. Im Vergleich zu vielen anderen Orten auf der Welt erscheint mir Bonn wie „Bullerbü“, auch wenn ich die Bonner Probleme durchaus sehe. Wir haben relativ wenig Arbeitslosigkeit, ein breites Freizeitangebot, eine tolle Landschaft. Wir liegen in Europa an einem Punkt, von dem man schnell wunderbare Urlaubsorte erreichen kann. Und wir haben ein hohes Bildungsangebot. Ich kann verstehen, dass viele Leute nach Bonn wollen. Man sollte darüber weniger nörgeln. Hier lebt der Großteil der Bevölkerung letztlich wie im Paradies.

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