Sterben ist kein Versagen

Sterben ist keine Krankheit, die behandelt werden muss: Es gehört zum Leben. Mag dies auch banal klingen - in dieser oder ähnlicher Art schon zu oft gelesen und gehört -, so steckt doch weit mehr darin, als auf den ersten Blick offenbar ist. Dies tatsächlich an sich heranzulassen, könnte ein erster Schritt sein, umzudenken.

Sich von der Vorstellung zu lösen, nur ein Leben in Gesundheit (mit ein paar Abstrichen hier oder dort) und finanzieller Sicherheit, aufgehoben in einem intakten familiären und sozialen Umfeld, sei es wert, auch als solches bezeichnet zu werden. Eben das genaue Gegenteil des bedürftigen, einsamen, alten und kranken Menschen, der in einem Pflegeheim vor sich hin vegetiert, womöglich unter chronischen Schmerzen, seinem Leiden und seinen Ängsten allein ausgeliefert; gerade mit dem Nötigsten versorgt und manchmal nicht einmal das. Eine Horrorvorstellung, verbunden mit dem Wunsch, dem nicht ausgeliefert zu werden, den Zeitpunkt des Todes selbst bestimmen zu können: in Freiheit und Würde.

Doch Würde ist kein Privileg, keine Leistung, die es bis zum Lebensende zu erbringen gilt, sondern von Geburt an jedem gegeben. Das schließt Säuglinge, Behinderte, Leidende und Sterbende ein. Sie ist störbar, auch durch die Erfahrung von Krankheit und körperlichem Verfall, aber sie ist nicht zerstörbar. So lautet das Credo des Buches "Menschliche Würde und Spiritualität in der Begleitung am Lebensende - Impulse aus Theorie und Praxis". Die Herausgeber Norbert Feinendegen, Gerhard Höver, Andrea Schaeffer und Katharina Westerhorstmann plädieren für ein Umdenken in Medizin und Pflege. Ziel ist ein umfassenderes, ganzheitliches, stärker mitfühlendes Verständnis, das den ganzen Menschen in den Blick nimmt: ihn nicht nur in seinen physischen, sondern auch in seinen emotionalen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen ernst nimmt.

Der 534 Seiten fassende Band mit Beiträgen von 26 Autoren ist am Bonner Lehrstuhl für Moraltheologie konzipiert worden. Das Buch richtet sich in erster Linie an Ärzte und medizinisches Fachpersonal, ebenso wie an Theologen und Mitarbeiter von Hospizen. Und kommt zu dem Schluss, dass wir in Deutschland etwas brauchen, das es in den Vereinigten Staaten und Großbritannien längst gibt: "Spiritual Care". Noch ein Anglizismus, um auszudrücken, was in einem Menschen vorgeht, der angesichts einer unheilbaren Krankheit auf das bevorstehende Lebensende blickt? Ein schwer zu fassender Begriff für die Unsicherheit, wie es sein wird, das Sterben, für die Angst vor Schmerz und einem bewusstlosen Dahinsiechen. Angst auch davor, plötzlich Bilanz ziehen zu müssen. Und nicht alles, was falsch war oder versäumt wurde, lässt sich in der verbleibenden Zeit noch aus der Welt schaffen oder nachholen.

Gerade darauf kann und soll sich die spirituelle Begleitung einlassen. Wobei Professor Gerhard Höver, katholischer Moraltheologe an der Universität Bonn, bewusst offen lässt, wie das Wort "spirituell" zu fassen ist: "Früher waren die meisten Menschen bei uns in einer bestimmten Religion beheimatet. Das ist heute nicht mehr der Fall." Spiritualität lässt sich also nicht mit Frömmigkeit oder Religiosität gleichsetzen, sondern ist vielmehr ein menschliches Grundbedürfnis, etwas ganz Alltägliches, so Höver. "Es geht darum, was einem Menschen wichtig ist, wonach er sucht, was er sich wünscht und wie er sich und sein Leben reflektiert. Auf einer erweiterten Ebene geht es um den generellen Sinn seiner Existenz und um Gott."

Würde und Spiritualität bilden die Grundlage dessen, was als "Spiritual Care" bezeichnet wird, was in den USA und in Großbritannien fest ins Ausbildungsprogramm integriert wird, aber bei uns noch Neuland ist. Auch wenn es in München bereits einen Lehrstuhl für "Spiritual Care" gebe, werde es, so Höver, noch seine Zeit brauchen, bis dieser Begriff und alles, wofür er steht, seinen Weg ins Medizinstudium findet, so wie sich zuvor die Palliativmedizin durchgesetzt hat. Norbert Feinendegen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Moraltheologie der Universität Bonn, beschreibt, wobei es bei einer spirituellen Begleitung Sterbender geht. Er nennt es eine "Begegnung auf Augenhöhe, bei der der Begleitete (der Patient) und der Begleitende (Arzt oder Pflegender) miteinander ins Gespräch kommen, sich aufeinander einlassen, wobei der Sterbende den Takt vorgibt".

Eine religiöse oder weltanschauliche Indoktrination ist damit ebenso wenig gemeint wie die Verleugnung der eigenen Überzeugungen, nur um sein Gegenüber nicht zu verletzen. Das, so Feinendegen, wäre unaufrichtig, es schaffe kein Vertrauen oder (schlimmer noch) ruiniere das, was bis dahin entstanden sei. Die Patienten spürten den Unterschied zwischen Aufrichtigkeit und Oberflächlichkeit sehr genau. "Der Anspruch der spirituellen Fürsorge besteht darin, dass beide Seiten bereit sind, sich durch diese Begegnung auf Augenhöhe verändern zu lassen, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, von sich etwas zu geben und zu empfangen." Dem Einwand, solche Begegnungen seien in dem auf Effizienz ausgerichteten Gesundheitssystem mit Personalmangel, Zeitnot und permanenter Überforderung nicht zu leisten, stellen die Autoren und Herausgeber des Buches das Postulat entgegen, sich die Zeit dafür bewusst zu nehmen, nicht als Luxus, sondern als menschliches Grundbedürfnis und zwar aller Beteiligten. "Zuhören ist schon Spiritualität", fasst Katharina Westerhorstmann, Privatdozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Moraltheologie der Universität Bonn, zusammen. Es reiche nicht aus, nach der Patientenverfügung zu fragen.

Dejan Vlajnic, Oberarzt der Abteilung Allgemeine Pädiatrie am Zentrum für Kinderheilkunde des Uniklinikums Bonn und Mitautor des Buches, der neben Medizin auch Evangelische Theologie studiert hat, schildert in seinem Beitrag, wie wichtig Nähe und Geborgenheit zwischen todkranken Kindern und ihren Vertrauenspersonen sind; vor allem der Körperkontakt; trotz all der Hindernisse in der Intensivmedizin. "Das Kind gehört auf die Arme der Mutter oder des Vaters, selbst wenn es an 'zig Schläuchen hängt. Das Streicheln, das Anfassen - dieser Moment ist durch nichts zu ersetzen und nicht wiederzubringen, wenn das Kind gestorben ist."

Bei Neugeborenen genügen manchmal eine Berührung oder ein Lied, um die Kleinen zu beruhigen. Dabei warnt Vlajnic davor, die jungen Patienten zu belügen, weil man sie schützen will. "Sie fordern die Wahrheit ein, und sie haben ein Recht darauf." Ebenso wie Vlajnic und seine Kollegen an der Bonner Kinderklinik auf die Nöte und Ängste der Eltern und der Geschwister, der sogenannten "Schattenkinder" eingehen. Die Betreuung der Familie reicht über den Tod des Kindes hinaus. Die Ärzte gehen mit zur Beerdigung, tragen - falls dies gewünscht wird - den Sarg und sehen die Eltern nach sechs bis acht Wochen noch einmal zum Gespräch. "Die meisten kommen später auch zu unserem Sommerfesten; oft auch aus Hunderten Kilometern Entfernung und Jahre nach dem Verlust."

Spirituelle Fürsorge heißt nicht, das Leiden relativieren oder sich davon distanzieren zu wollen: im Gegenteil. Sich den sterbenden Patienten zu öffnen, sie bis zum Schluss als gleichwertige Person wahrzunehmen, das fordert - die eigene Person, mit all ihren Ängsten. So stehen am Ende des Buches auch die Erkenntnis und der Wunsch, dass "Spiritual Care" nicht erst kurz vor dem Lebensende einsetzen, sondern das ganze Leben begleiten sollte, in Gesundheit und Krankheit. Um langfristig die Art und Weise zu verändern, in der Sterben und Tod in einer auf Heilung und Reparatur ausgerichteten Gesellschaft wahrgenommen werden.

Norbert Feinendegen, Gerhard Höver, Andrea Schaeffer, Katharina Westerhorstmann (Hrsg.): Menschliche Würde und Spiritualität in der Begleitung am Lebensende. Impulse aus Theorie und Praxis. Königshausen & Neumann, 534 S., 49,80 Euro

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